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Berichte

Aufbruch nach Utopia

Die Mächtigen der Welt unter Druck: Hinter hohen Mauern trafen sich Konzernchefs und Politiker in New York zu ihrem exklusiven Jahrestreffen. Zeitgleich feierten in Brasilien 60.000 Globalisierungskritiker ein buntes Gegenforum. Ihre Botschaft: "Eine andere Welt ist möglich."

(von Jan Fleischhauer, Ulrich Schäfer, Der Spiegel)

Die gute Nachricht vorweg: Der Zimmerservice im Bunker war erstklassig. Sagen jedenfalls diejenigen, die in den vergangenen Tagen die Ehre hatten, sich in die Gästeliste des New Yorker Hotels Waldorf Astoria eintragen zu dürfen, dem diesjährigen Tagungsort des Weltwirtschaftsforums. Perfekter Service ist kein ganz unwesentliches Detail für jemanden, der 25 000 Dollar für ein verlängertes Kongresswochenende in Manhattan bezahlt und dann nicht einmal unbesorgt zu einem Stadtbummel vor die Hoteltür treten kann. Wie heiter, wie unbeschwert waren doch im Vergleich die fünf Tage in Davos gewesen, dem traditionellen Treffpunkt des "World Economic Forum". Tagsüber ein paar philosophische Dehnübungen im Kongresszentrum unterm Zauberberg über den Zustand der Weltwirtschaft, nachmittags ein wenig Skisport und abends mit der Pferdekutsche zum Pöstli-Wirt.

Aber nun hatte es ja unbedingt New York sein müssen, die Stadt des Terroranschlags. Noch größer und bedeutender sollte das Treffen der 2500 einflussreichsten Wirtschaftsführer, Politiker und Wissenschaftler der Welt dieses Mal ausfallen. Nicht weniger als die "Vision einer gemeinsamen Zukunft" stand auf dem Programm. Da erschien ein Luftkurort in den Schweizer Alpen einfach als falsche Kulisse. So wurden aus Machern, die mit einem Kopfnicken über das Wohl ganzer Volkswirtschaften entscheiden können, Inhaftierte. 4000 Polizisten hatte die Stadt im Einsatz, um den "Gipfel der Gipfel" gegen Protest und Revolte zu schützen. Ganze Straßenzüge waren zu "gefrorenen Zonen" erklärt, ein Terminus, der den New Yorkern seit dem 11. September nur zu vertraut ist.

8500 Kilometer entfernt, in Pôrto Alegre an der Küste Brasiliens, zeigte sich die Globalisierung zeitgleich von ihrer anderen, in diesem Falle freundlichen Seite. "Weltsozialforum" hieß die Veranstaltung, die als Gegengipfel zum Treffen in New York ausgerufen war. Ohne Absperrgitter. Ohne Polizisten mit Sturmgewehr im Anschlag. Wer auf das Tagungsgelände, den weitläufigen Campus der katholischen Universität von Pôrto Alegre, gelangen wollte, dem genügte ein Lächeln. Rund 60 000 Menschen hatten sich übers Wochenende in der Hafenstadt versammelt, um in Hunderten von Diskussionsrunden und Workshops über ihre Vision einer Zukunft für alle zu debattieren, über die Regeln, die es braucht, um Wohlstand fair zu verteilen, und eine neue, gerechtere Wirtschaftspolitik. Gekommen waren sie aus aller Welt: aus Berlin, Seattle und Paris, aus den peruanischen Anden und den ländlichen Regionen Indiens, aus Tunesien, Tahiti, Tibet und Thailand. Landlose Bauern aus Argentinien, wo sich die Massen ohnehin seit Monaten gegen die Staatsgewalt auflehnen, kämpften für Grund und Boden, Umweltschützer aus Indonesien gegen den industriellen Fischfang, Gewerkschafter aus Südostasien und Nordeuropa für stärkere Arbeiterrechte. Es war eine bunte, unübersichtliche Koalition, die sich da machtvoll Gehör verschaffte. "Um outro mundo é possível" lautete der Schlachtruf, der den Forumsteilnehmern in Manhattan aus Brasilien entgegenschallte: "Eine andere Welt ist möglich." Auf den ersten Blick war es ein sehr ungleicher Kampf um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, der sich zwischen der Küstenstadt Pôrto Alegre und der Finanzmetropole New York entspann. Hier die Mächtigen, dort die Machtlosen. Hier die Global Player, dort die globalen Kritiker. Hier das Geld, dort der Widerspruch. Wenn es so etwas gibt wie eine Weltklassengesellschaft, dann lieferten die beiden Gipfel die passenden Bilder. Natürlich ging es, wie immer wenn Politik betrieben wird, um Begriffe und Slogans. Vor allem aber ging es um die Frage, wer zu Recht für sich reklamiert, dem Gemeinwohl zu dienen. "Verpflichtet, den Zustand der Welt zu verbessern" lautet seit Jahren der Wahlspruch des Weltwirtschaftsforums. Als "Cocktailparty für die Reichen und Mächtigen" verspotten die Kritiker das Superforum. Tatsächlich ist ja nicht ganz leicht zu erklären, was hoch bezahlte Industrieführer dazu veranlasst, sich einmal im Jahr in einen Kongress-Saal zu setzen, um Vorträgen über die "Stimme des Islam" zu lauschen oder die "Zukunft Europas". Vielleicht ist es der Reiz, einem Club anzugehören, der erwiesenermaßen die schärfsten Zugangsregeln der Welt besitzt. Grundvoraussetzung für die Mitgliedschaft ist ein Jahresumsatz von mindestens einer Milliarde Dollar. Gäste aus Medien, Kultur und dem Unterhaltungsgewerbe werden nach Prominenz hinzugeladen. Vielleicht ist es auch einfach das Bedürfnis nach ein wenig intellektuellem Dekor. Wer der schnöden Gewinnmaximierung höhere Weihen verleihen will, der ist beim "World Economic Forum" genau richtig. Schon die Tagungsunterlagen, die jeder Teilnehmer bei Ankunft in die Hand gedrückt bekommt, strotzen nur so von prächtigen Platituden und exaltierten Abstraktionen. Da werden überall neue "Paradigmen" geortet, die es zu "adressieren" gilt, da ist von der "Moral" der Märkte die Rede, von "Führung in kritischer Zeit" und "verantwortlicher Globalität" und ganz viel vom "Brückenbauen".

Kaum jemand beherrscht das Klappern mit dem Begriffsbesteck so virtuos wie der Gründer des Weltwirtschaftsforums, der Wirtschaftsprofessor Klaus Schwab. 1971 hat er das erste Treffen für etwa 400 europäische Unternehmer organisiert. Mit den Jahren dehnte die Tagung ihre Themen immer weiter aus und begann bedeutende Manager und Politiker auch aus Asien und Amerika anzuziehen. Schwabs Erfolg basiert auf dem Versprechen, das moralische und intellektuelle Vakuum zu füllen, in dem die Konzernlenker gestrandet sind. Sein Gipfeltreffen versorgt die Teilnehmer mit wohlklingenden Begründungen, weshalb es im Interesse der Allgemeinheit ist, dem Markt freie Hand zu lassen, und die Bürger in Asien sich eigentlich glücklich schätzen sollten, wenn der Internationale Währungsfonds ihre Banken unter eine Art Zwangsaufsicht stellt. Lange haben die Veranstalter des Forums ihre Kritiker nicht wirklich ernst nehmen müssen. Zu verblasen schienen deren Vorstellungen, zu unorganisiert ihr Auftreten. Nun, da die Autorität der Veranstaltung zum ersten Mal ernsthaft in Frage gestellt ist, spuckt die Presseabteilung immer neue Zahlen aus, die die Hochherzigkeit der Veranstaltung belegen sollen. 40 "religiöse Führer" waren diesmal nach New York eingeladen, 40 Gewerkschafter, 200 Vertreter von Umweltschutzverbänden, Friedensgruppen und so genannten Think-Tanks. Erzbischof Desmond Tutu stand auf der Teilnehmerliste, Uno-Generalsekretär Kofi Annan, Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel. Das Problem ist nur: Auch die Globalisierungskritiker haben Statistiken zur Hand. 250 Millionen Kinder auf der Welt arbeiten für wenige Cents pro Stunde, ein Drittel der Weltbevölkerung lebt ohne elektrischen Strom, 100 000 Menschen sterben jeden Tag an Hunger. Gegen solche Zahlen wirken die Umsatzdaten und Wachstumsprognosen, mit denen sich die Weltenlenker gern brüsten, nur noch obszön. Natürlich weiß Schwab nur zu genau, dass im Fernsehzeitalter die Bilder noch mächtiger als die Begriffe sind. Er ist lange genug im Geschäft, um die Wirkung der TV-Aufnahmen einschätzen zu können, die sein Forum als Festung zeigen, zumal wenn im Gegenschnitt die bunten Truppen im sonnigen Brasilien zu sehen sind. "Wir haben lange überlegt, was wir dagegen tun können", sagt Schwab "wir haben keine Lösung gefunden."

Es sind Leute wie Egídio Brunetto, mit denen der Gründer des Weltwirtschaftsforums sich jetzt auseinander setzen muss: kein saudischer Prinz, kein Microsoft-Boss, kein Regierungschef - sondern ein brasilianischer Bauer, der ums Überleben kämpft. In Pôrto Alegre hatte der Mann vom brasilianischen Landlosenverband endlich jene Aufmerksamkeit, die er sich schon immer gewünscht hat: Alle Kameras richteten sich auf ihn und seine Mitstreiter, als sie gleich zum Auftakt der Veranstaltung losmarschierten, mit ihren Frauen und Kindern vorneweg. Brunettos anklagende Worte passen nicht so recht zur optimistischen Weltsicht des "World Economic Forum". Da empörte sich ein Mann des Volkes über die Skrupellosigkeit, mit der ausländische Konzerne den Amazonas ausbeuten. Da schilderte ein Betroffener, was es heißt, wenn sich Firmen Land, Wasser und Saatgut sichern. Auch die Anti-Globalisierungs-Bewegung hat inzwischen ihre Idole, etwa die kanadische Schriftstellerin Naomi Klein ("No Logo!") oder die indische Wissenschaftlerin Vandana Shiva. Doch es waren vor allem die Geschichten der Namenlosen, die dem Weltsozialforum seine Strahlkraft verliehen. Die Frage der Aktivisten lautete ganz schlicht: Wer ist berechtigt, die Regeln einer Wirtschafts- und Sozialordnung aufzustellen, die weltumspannend gilt? Ein exklusiver Club der Reichen und Superreichen? Oder diejenigen, die den Millionen von Ausgeschlossenen ihre Stimme leihen? Die Idee zu dem Gegengipfel stammt von dem Franzosen Bernard Cassen. Was Schwab für die Konzernlenker ist, das ist der "Le Monde diplomatique"-Redakteur und Gründer von Attac für die Anti-Globalisierungs-Bewegung: Vordenker, Strippenzieher und Macher in einem. Bereits vor einem Jahr folgten rund 20 000 Aktivisten seinem Protestruf nach Brasilien, fünfmal so viele wie erwartet. Auch dieses Jahr wieder wurden alle Planzahlen übertroffen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Cassen und seine Freunde die Macher des Weltwirtschaftsforums mit ihren eigenen Konzepten schlagen. Bis ins Detail haben die Veranstalter in Pôrto Alegre die Struktur des Davoser Treffens kopiert, dieses dicht gedrängte Programm aus großen Plenarsitzungen und kleinen Workshops. Der Erfolg ist unverkennbar. Erstmals fanden sich auch reichlich Prominente ein, die das Gespräch mit den Globalisierungskritikern suchten, die Uno-Menschenrechtsbeauftragte Mary Robinson beispielsweise, der französische Präsidentschaftskandidat Jean-Pierre Chevènement oder der ehemalige portugiesische Premierminister Mario Soáres. Mit der Aufmerksamkeit wächst der Druck, mehr zu liefern als nur die richtigen Fragen. "Es reicht nicht, dass wir uns nur an der WTO, der Weltbank und dem Währungsfonds abarbeiten", sagt Peter Wahl von der deutschen Entwicklungsinitiative Weed, "wir müssen sagen, wie diese andere Welt, die möglich ist, aussehen soll." So bemühte sich die Bewegung, anders als noch bei den Massendemonstrationen in Seattle und Genua, diesmal nicht nur, ihren Widerspruch zu formulieren - sondern suchte auch nach Alternativen zu dem von ihnen kritisierten Wirtschaftssystem.

Als wohl kühnstes Konzept wurde dabei die Idee eines "globalen Marshall-Plans" gehandelt, eines Konzepts, das von französischen Attac-Mitgliedern entworfen wurde. Drei globale Steuern sollen demnach künftig für eine bessere Welt sorgen. Die Tobin-Steuer auf Devisengeschäfte, dazu eine Abgabe auf alle Auslandsinvestitionen der Multis sowie eine weltweite Mindeststeuer auf Konzerngewinne. Aus den Milliarden, die diese neuen Geldquellen anschwemmen, sollen zwei Fonds unter Verwaltung der Uno gespeist werden, ein gigantisches Aufbauprogramm, das vor allem der Bildung, dem Gesundheitssystem und dem Technologietransfer in die Dritte Welt dient. Noch sind nur die Umrisse dieses Aufbruchs nach Utopia klar. Doch zumindest im Nebenprogramm des New Yorker Weltwirtschaftsforums werden die Manager schon auf den Zeitenwandel eingestimmt. "Politics of Apology", die Kunst der Entschuldigung, lautete Programmpunkt 36 am Freitagmittag im Waldorf Astoria. Erzbischof Tutu und Elie Wiesel erklärten den Konzernlenkern, wie man für Entscheidungen um Verzeihung bittet, "die anderen Schaden zufügen".

 

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