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Pressespiegel

Frankfurter Rundschau

 

FR, 23.1.2003
Neoliberaler Jargon und antikapitalistisches Esperanto
Das Fernduell von Davos und Porto Alegre ist auch ein Kampf um die Formen eines neuen bürgerschaftlichen Engagements

Von Claus Leggewie

"Neoliberal, na und?", fragte kürzlich der Kolumnist einer liberalen Zeitung und schien stolz darauf zu sein, wie viele Feinde die mit diesem Plastikwort bezeichnete Marktvergötzung mittlerweile hat. Was sich schon im vergangenen Jahr andeutete, eine "Umkehr der Beweislast" (FR v. 9. Februar 2002), ist mittlerweile ins allgemeine Bewusstsein gedrungen: Nicht mehr die Gegner der Globalisierung, wie wir sie kannten, müssen sich rechtfertigen, ihre Verfechter müssen nun um Vertrauen werben.

"Vertrauen bilden" heißt denn auch das Motto des World Economic Forum, das heute wieder in Davos beginnt und immer noch 2200 Manager und Politiker anzieht (www.weforum.org). Ein Wirtschaftsblatt hat sie vor nicht langer Zeit noch ganz ohne Ironie zu "Herren des Universums" erhoben. Wie hohl klingen solche Phrasen heute, nachdem die Spekulationsblase geplatzt und bekannt geworden ist, wie sich die ohnehin überbezahlten Weltenlenker (vom Typ Enron oder Haffa Bros.) noch einmal kräftig selbst bedient haben, bevor sie ihre zum Teil kriminell überbewerteten Firmen in den Orkus warfen, samt Belegschaften, Pensionskassen und Konsumentenvertrauen.

Das Motto des seit 30 Jahren tagenden Treffens soll der Davos-Elite vor allem selbst Mut machen. Nicht nur verhandeln vor den Türen noch selbstbewusster gewordene Kritiker aus Kirchen und Nicht-Regierungs-Organisationen im "Open Forum" über Fair Trade und illegale Kinderarbeit, nicht nur tröpfeln auch wieder lärmende Demonstranten durch die im Alpental aufgestellten Kuhgatter - vor allem ist die Sorte von Kapital, die sich in Davos zur Schau stellt, vom digitalen Kapitalismus und der vernetzten Gesellschaft selbst überholt. Dass deren Ansehen mit dem Schiffbruch der New Economy gelitten hat, macht sich jetzt die altbackene Managerelite zunutze. Aber der Rollback wird kaum gelingen, auch nicht mit Hilfe des linken, nach Davos eingeladenen brasilianischen Präsidenten Lula, der aus Porto Alegre kommt, eben jener Stadt, die mittlerweile 100 000 Menschen zum parallel tagenden World Social Forum anzieht, unter dem Motto: "Eine andere Welt ist möglich" (www.portoalegre2003.org).

Nicht nur dieser exotische Besucher (der im Frack neben Colin Powell stehen wird) macht stutzig, auch die Tatsache, dass die Themen der Panels und Foren immer ähnlicher klingen. Sicher spricht man in Davos neoliberalen Jargon und in Porto Alegre antikapitalistisches Esperanto, aber beide Veranstaltungen untermauern auf ihre Art die Gewissheit, dass es in der Weltwirtschaft nicht mehr so weitergehen kann wie bisher. Ein Manager hat die Konvergenz der feindlichen Brüder so beschrieben: "Wir alle wünschen uns eine bessere Welt, in der es den Menschen besser geht. Wie dies geschehen soll, ist allerdings die Frage. Die einen glauben an Umverteilung, andere an Freihandel und Demokratie. Lernen kann man von Andersdenkenden immer, auch wenn man andere Schlussfolgerungen zieht."

Nicht dass es bei diesem Findungsprozess unbedingt gesittet und stets moderat zuginge. Die Auseinandersetzung ist leidenschaftlich, und was die jeweiligen Bataillone anbetrifft, herrscht alles andere als Waffengleichheit, auch wenn die NGOs heute schon so viele Ressourcen mitbringen, dass das von ihnen gern gezeichnete Bild David gegen Goliath schief ist. Gegnerschaft, ja Feindschaft belebt die Konfrontation, die sich in Davos wieder martialisch ausstaffiert und Kameraleute beschäftigen wird: Das Oltner Bündnis, "ein Zusammenschluss von linken, christlichen, autonomen, pazifistischen, anarchistischen, grünen, antiimperialistischen, feministischen und kommunistischen Personen aus den verschiedensten Basisgruppen, Parteien, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen" (www.oltnerbuendnis.ch) und harter Kern der Anti-Davos-Proteste (www.publiceyeondavis.ch), hat angekündigt, sich den Polizeikontrollen nicht beugen zu wollen. Über dem abgeriegelten Wintersportort kreisen Militärflugzeuge.

Im selben Boot

Die Davoser haben ihren Gipfel trotz erwarteter Einnahmen in Millionenhöhe mittlerweile satt, im Süden Brasiliens kommt man inzwischen ohne Feindberührung aus. Dennoch: Die feindlichen Brüder sitzen nicht nur diskursiv im gleichen Boot. Der Themenwandel des WEF im vergangenen Jahrzehnt deutet an, dass sich die moralischen Ressourcen des Kapitalvertrauens erschöpft haben; der Laden läuft nur noch, weil sich auch auf der anderen Seite die Einsicht verbreitet hat, dass einen Zusammenbruch der unfreien Marktwirtschaft niemand (und zuletzt die Ärmsten im Süden und Norden) unbeschadet überstehen würde. Dass Attac-Deutschland, neben den Kirchengruppen und der Rosa-Luxemburg-Stiftung die stärkste deutsche Fraktion in Porto Alegre, kürzlich mit dem DGB und VENRO (einer Dachorganisation entwicklungspolitischer NGOs) aufrief, Globalisierung zu "gestalten" (www.venro.org/ download), also das politische Codewort für Reform benutzte, bringt höchstens noch Standfeste wie Linksruck auf die Palme, die Attac hier und da zu unterwandern versuchen. Auch in Porto Alegre wird die Einsicht vorherrschen, dass man aus dem Fiaker namens Weltwirtschaft nicht nach Belieben aussteigen kann, und dass der Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Demokratie bedeutet, sehr dicke Bretter bohren zu müssen.

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FR, 23.1.2003
Drohender Krieg drückt die Stimmung in Davos....
Wirtschafts- und Politprominenz trifft sich zum 33. Gipfel wieder in der Schweiz

von Rolf Paasch (Berlin)

"Vertrauen schaffen", lautet das Motto des am Donnerstag im Schweizer Skiort Davos beginnenden 33. Weltwirtschaftsforums. Angesichts eines drohenden Irakkrieges und weltwirtschaftlicher Stagnation finde das Treffen der 2200 Spitzenvertreter aus Wirtschaft, Politik und Kultur in einem schwierigen Umfeld statt, konstatierte Forums-Präsident Klaus Schwab am Mittwoch. Kritiker der Globalisierung kündigten Gegenveranstaltungen in Davos an.

Der Außen- und der Justizminister der USA, Colin Powell und John Ashcroft, Microsoft-Gründer Bill Gates und Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann gehören ebenso zu den Gästen in Davos wie Bundespräsident Johannes Rau und der jordanische König Abdullah II. Aus 99 Ländern kommt die Prominenz aus Politik und Wirtschaft, die sich sechs Tage lang trifft - diesmal wieder in der Schweiz.

Im vergangenen Winter hatte das "World Economic Forum" (WEF) als Zeichen der Solidarität mit den Opfern der Terroranschläge vom 11. September 2001 unter beispiellosen Sicherheitsvorkehrungen in New York stattgefunden. In diesem Jahr ist die Kulisse wieder alpin, doch das Flugverbot und die Absperrungen gelten auch für den Kanton Graubünden und die berühmte Promenade des Kurortes.

Die Bewachung der Teilnehmer durch mehr als 3000 Soldaten und Polizisten kostet rund zehn Millionen Euro. Nur nach strengen Kontrollen dürfen Globalisierungsgegner am Samstag zu ihrer angemeldeten Demonstration in dem Skisportort zusammen kommen. "Der Davos-Mann", wie der US-Ökonom Paul Krugman einmal den Typus des dorthin reisenden Wirtschaftsführers bezeichnet hat, muss aus einer Festung heraus um Vertrauen werben. Nicht einmal mehr getanzt und diniert werden darf am Samstagabend, so hat es WEF-Gründer Klaus Schwab mit Hinweis auf die allgemeine Krisenlage verfügt.

Während zeitgleich im brasilianischen Porto Alegre das alternative Weltsozialforum stattfindet, wollen die Veranstalter des WEF den gemäßigten Globalisierungs-Kritikern mit ihrem "Open Forum" auch in Davos ein Diskussions-Angebot machen. Das bedeutet, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Wirtschaftsforums ein Teil der etwa 270 Diskussionsrunden und Workshops einer breiten Öffentlichkeit zugänglich ist.

In der Hoffnung, dass die Kluft zwischen Befürwortern und Gegnern der Globalisierung "nicht unüberbrückbar bleibt", so der grüne Aktivist John Elkington, schicke seine Umweltorganisation Sustain Ability Delegationen sowohl zu den Globalisierungskritikern nach Porto Alegre als auch zu den Wirtschaftsbossen und Politik-Mächtigen nach Davos. Die wie in jedem Jahr von Nichtregierungsorganisationen organisierte Gegenveranstaltung Public Eye on Davos arbeitet dagegen nicht mit dem Weltwirtschaftsforum zusammen.

Und auch die Demonstranten, die sich in ihren Aufrufen als Teil der Anti-Kriegsbewegung definieren, dürften bei ihrem Protestmarsch am Samstag die in Hörweite tagende Wirtschaftselite kaum als Mitstreiter ansehen. Dabei gibt es auch unter den "Davos-Männern" zahlreiche Stimmen, die einen Krieg in Irak für gefährlich und geschäftsschädigend halten.

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FR, 23.1.2003
...und lockt Massen nach Brasilien
Globalisierungskritiker beim Weltsozialforum in Porto Alegre

von Wolfgang Kunath (Rio de Janeiro)
Mit einer Rekordbeteiligung von rund 100 000 Menschen aus 125 Ländern beginnt am heutigen Donnerstag das Weltsozialforum im südbrasilianischen Porto Alegre. Die Kritik an der Globalisierung und an den Vorbereitungen des Kriegs gegen Irak stehen im Mittelpunkt der sechstägigen Großveranstaltung.

Das Treffen ist vor zwei Jahren als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos initiiert worden. Damals kamen 15 000 Globalisierungsgegner nach Porto Alegre, im vergangenen Jahren waren es bereits 50 000. Das diesjährige Weltsozialforum steht unter dem ebenso vagen wie optimistisch klingenden Motto "Eine andere Welt ist möglich".

Die Veranstalter haben große, ebenfalls sehr allgemein gehaltene Themenblöcke wie "nachhaltige demokratische Entwicklung" oder "politische Macht und Zivilgesellschaft" vorgegeben, die die Vielzahl der Bedenken gegen die Globalisierung artikulieren sollen. Im Hinblick auf die US-Vorbereitungen für einen Irak-Krieg steht erstmals auch die internationale Friedenspolitik im Mittelpunkt der insgesamt 1500 Veranstaltungen. Die USA dürften nicht nur des Irak-Krieges wegen die Zielscheibe allgemeiner Kritik abgeben, sondern auch wegen ihrer Vorreiterrolle bei der Bildung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone, die Globalisierungsgegner für ein Instrument zur Unterwerfung Lateinamerikas unter die USA halten.

Teilnehmer der ersten beiden Foren hatten kritisiert, dass sie viel diskutiert, aber wenig konkrete Handlungsleitlinien entworfen hätten. Die Debatte, ob sich das Weltsozialforum nicht stärker politisieren müsse, flackert auch diesmal wieder auf. "Die kritische Analyse über die Lage der Welt gehört bereits zum Konsens auf dem Forum. Jetzt müssen wir dazu übergehen, ein neues Wirtschaftsmodell zu formulieren und durchzusetzen", sagt María Luisa Mendonca, Vertreterin einer brasilianischen Menschenrechtsorganisation, die das Forum mit vorbereitet hat. Sérgio Haddad, ebenfalls einer der Organisatoren, illustriert, worum es geht: "Wir werden Handlungsstrategien definieren, zum Beispiel: Reformieren wir die multinationalen Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die Weltbank, oder schaffen wir sie besser ab?"

Wenn das Forum seinen Charakter als Ort engagierter, aber folgenloser Debatten verlieren und stärker handlungsorientiert sein soll, muss es nach Überzeugung vieler Unterstützer auch anders organisiert werden. Bisher hat eine Gruppe von brasilianischen Nicht-Regierungsorganisationen die Vorbereitungsarbeit übernommen und damit die bisherigen Treffen entscheidend gestaltet. Die vorherrschende Rolle der Brasilianer trifft jedoch mittlerweile auf Kritik.

"Wenn wir dem Forum mehr Kontinuität geben wollen, müssen wir eine größere internationale Präsenz in den Entscheidungsprozessen sicherstellen", sagt Bernard Cassen, einer der Gründer des Forums und Präsident von Attac-Frankreich, eine der wichtigsten Anti-Globalisierungs-Organisationen. Andere wenden dagegen ein, dem Forum stehe es nicht zu, die politische Linie einer globalen Bewegung vorzugeben. Mittlerweile gilt es als sicher, dass das nächste Weltsozialforum nicht mehr in Brasilien, sondern in Indien stattfinden wird.

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FR, 24.1.2003
Bunt und folgenlos?

Wenn Che Guevara heute noch am Leben wäre, dann würde sich der alte Herr sicher wundern, wie sehr sein Jugendbildnis plötzlich wieder in Mode ist. In Porto Alegre, auf dem Weltsozialforum, dient die Revolutions-Ikone, in zahlreichen Varianten auf T-Shirts aufgedruckt, der Selbstvergewisserung vieler Delegierter und Besucher. Sie stellen vergnügt und mit einem gewissen Optimismus fest, dass sie einer weltweiten, starken Strömung angehören. "Wir erleben ein gewaltiges Wachstum der Bewegung", sagt einer der Organisatoren und fügt mit klammheimlicher Freude hinzu: "und das angesichts der Krise der anderen Seite." Das Weltwirtschaftsforum in Davos nämlich, als dessen Gegenentwurf sich das Weltsozialforum in Porto Alegre versteht, muss sich - wegen globaler Baisse und globalen Betrügereien - gegenwärtig darum bemühen, Vertrauen zurückzugewinnen, wie das Motto von Davos lautet.

Porto Alegre ist ein Forum globaler Gegenöffentlichkeit, und man muss nicht unbedingt ein Che-Guevara-Shirt tragen, um diese Art der Opposition in der Welt für bitter nötig zu halten: Die Globalisierungsfolgen und der drohende Irak-Krieg bilden in Porto Alegre den Mittelpunkt. Wie immer stellt sich natürlich die Machtfrage. Selbst wenn im kalten Davos tatsächlich, wie es in Porto Alegre heißt, "nur die Vision der Geschäftsleute" präsentiert würde - dort wird eher entschieden als im heißen Porto Alegre.

Umso drängender stellt sich für die Organisatoren der Mammutveranstaltung die Frage, wohin das Weltsozialforum treiben soll. Bleibt es ein anregendes, freundliches Treffen der Linken und Alternativen aus aller Welt - bunt, nett und folgenlos? Das Forum muss sich, wenn es mehr sein soll als nur ein jährlicher Kongress, andere Organisationsstrukturen geben. Nicht, dass der Kongress nur ein Selbstzweck wäre. Aber wenn man globale Politikbeeinflussung betreiben will, wenn weltweit Lobbyarbeit für die Ziele des Forums geleistet werden soll, dann muss man seine Scheu vor den hierarchischen Strukturen irgendwann mal überwinden.

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FR, 25.1.2003
Globalisierungskritik hat eine Adresse: George Bush
Der Ärger über weltweite Ungerechtigkeit macht sich beim Sozialforum in Porto Alegre am US-Präsidenten und dem Irak-Konflikt fest

von Wolfgang Kunath (Porto Alegre)

Vermummt oder im Federschmuck, im Anzug oder im Hippie-Look, im akademischen Diskurs oder in der platten Phrase: So vielfältig äußert sich in Porto Alegre das Unbehagen an der Globalisierung und die Angst vor dem Krieg in Irak.
So ein richtig globales Problem ist es nicht, das Raimundo Gomes de Oliveira bewogen hat, sich von seinem Dorf Sao Joao das Missoes auf den weiten Weg nach Südbrasilien zu machen: "Der Rio Tacarambizinho wird oberhalb von unserem Dorf verdreckt, und jetzt werden unsere Kinder krank von dem Wasser", klagt der Indianer, der mit 70 000 anderen durch die Innenstadt von Porto Alegre marschiert. So ist das mit der Globalisierung: Auch das Lokale ist global und gehört in den großen Zusammenhang, und nirgendwo zeigt sich das so so schillernd wie auf dem Weltsozialforum mit seinen mehr als 1500 Veranstaltungen und seinen 100 000 Teilnehmern.

Ob Steuerflucht oder Aids, ob Staudämme oder der Nahost-Konflikt, ob Zivilgesellschaft oder Auslandsverschuldung, ob Welthandelsorganisation oder Kleinkreditprogramm: Die Breite der Themen, die Zahl der Veranstaltungen, die Vielfalt der Organisationen in Porto Alegre ist überwältigend. Entsprechend abgekämpft stiegen die Teilnehmer am Abend des Auftakttages in die Busse, um zur Demonstration ins Zentrum der Stadt zu fahren.

Die Vorbereitungen für den Krieg gegen Irak sind der emotionale Juckepunkt in Porto Alegre. US-Präsident George Bush bietet ein klarer konturiertes Feindbild als die Globalisierung, bei der die Täter zwar theoretisch dingfest zu machen, aber eben nicht so leicht anzugreifen sind. Der ältere Herr, der erregt eine Fotomontage hochhält, die den US-Präsidenten an der Seite von Adolf Hitler zeigt, erntet hier kaum Befremden oder gar Widerspruch.

Attacken auf McDonalds-Filialen gab es, anders bei den Demos in den Vorjahren, diesmal nicht. Wie es überhaupt bis Freitagnachmittag zu keinem einzigen Zwischenfall kam: Friede allenthalben. Auch wenn ein paar Schwarzvermummte mitmarschiert waren - an ihren Schildern als Deutsche erkennbar. Liegt es daran, dass "die Bewegung", oder jedenfalls der starke brasilianische Teil von ihr, jetzt an der Macht ist, oder sich jedenfalls als Teilhaber daran fühlen kann? Nicht weniger als sechs Minister des brasilianischen Präsidenten Luíz Inácio Lula da Silva marschierten mit, und 24 Stunden später sollte der Präsident selbst zu den Besuchern des Kongresses sprechen.

Lula ist, noch ehe er gekommen ist, der Liebling des Kongresses: Wie ein Pop-Star wird der ehemalige Arbeiterführer bejubelt, der zum Hoffnungsträger weit über die langen Grenzen Brasiliens hinaus geworden ist. Selbst Luíz Dulci löst bei der Eröffnung des Forums stürmische Ovationen und begeisterte Sprechchöre aus - stellvertretend für den Chef. Denn Lulas Minister im Präsidentenbüro ist ein Mann von außergewöhnlich drögem Auftreten.

In den Hintergrund getreten ist der Streit darüber, dass Lula nicht nur nach Porto Alegre, sondern auch nach Davos fährt. Eine starke Fraktion des Organisatorenkreises findet es degoutant, dass der Linkspräsident sich auf dem Weltwirtschaftsforum mit dem Feind zusammensetzt, so etwa Susan George, Kritikerin des Weltwirtschaftssystems. Lula hat diese Vorwürfe mit einiger Eleganz gekontert: Er werde in Davos verkünden, dass "eine andere Welt möglich" sei, sagte er, das Motto des Weltsozialforums zitierend - und wer mag da nicht nicken. So wie Brasilien "einen neuen Sozialvertrag" brauche, sei "ein weltweiter Pakt nötig, um den Abstand zwischen den reichen und den armen Ländern zu verringern", sagte Lula zur Rechtfertigung seiner Europa-Reise, die ihn auch nach Berlin und Paris führt. Nach wie vor ist das Sozialforum, das erstmals 2001 als Gegenveranstaltung zu Davos in Porto Alegre stattfand, eine sehr brasilianische Angelegenheit. Nicht, dass nicht genügend Delegierte aus aller Herren Länder angereist wären. Aber die meisten Besucher kommen, der Lage des Schauplatzes gemäß, aus Südamerika. Allein Brasilien stellt ein Fünftel aller Teilnehmer. Asiaten dagegen sieht man selten, und auch Afrikaner sind nicht gerade in großer Zahl angereist. Das hat finanzielle Gründe, aber es hängt sicher auch damit zusammen, dass in Afrika die zivilgesellschaftlichen Strukturen nur schwach ausgeprägt sind, in denen sich globalisierungskritische Gruppen bilden. Um dieses Ungleichgewicht auszutarieren, soll - eine nicht unumstrittene Entscheidung - das Forum im nächsten Jahr in Indien stattfinden. Erstaunlicherweise verfielen die Organisatoren auf die Idee, im Jahr 2005 wieder nach Porto Alegre zurückzukehren.

Die Teilnehmer des Forums können sich in dem Bewusstsein sonnen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung ihre Meinung teilt - grundsätzlich jedenfalls. Das ergab eine Meinungsumfrage, die die Organisatoren des Forums in fünfzehn Ländern in Auftrag gaben: Rund zwei Drittel der 15000 Befragten meinen, soziale Fragen sollten Vorrang haben, nur ein Drittel will dem Wirtschaftswachstum den Vorrang geben. Besonders die Briten beklagen, dass "mächtige äußere Kräfte" die Zukunft der meisten Menschen bestimmten; die US-Amerikaner meinen dagegen mehrheitlich, jeder sei Herr seines Schicksals.

Die Ansicht, dass die Globalisierung zur Konzentration von Reichtum beiträgt, findet in Südkorea und in Deutschland am meisten Zustimmung; 75 beziehungsweise 68 Prozent der Befragten finden das. Dagegen stehen die Mexikaner der Globalisierung positiv gegenüber; 56 Prozent meinen, sie bringe Chancen für alle.

Die Multis werden von keiner befragten Gruppe deutlicher für die Globalisierung verantwortlich gemacht als von den Deutschen; 74 Prozent sehen die Multis als Schuldige, und nur 24 Prozent betrachten Globalisierung als Folge der natürlichen wirtschaftlichen Entwicklung. In China ist das Verhältnis umgedreht.

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FR, 27.1.2003
Lula fordert "neue Weltordnung"
Brasiliens Präsident appelliert in Davos an Wirtschaftsspitzen

Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat am Sonntag beim Weltwirtschaftsforum in Davos zu einem weltweiten "Pakt für Frieden und gegen den Hunger" aufgerufen. Globalisierungskritiker lieferten sich aus Anlass des Forums in der Schweiz Auseinandersetzungen mit der Polizei.

DAVOS / BERN, 26. Januar (afp/kna/ap/dpa). Brasiliens Präsident forderte die etwa 2000 Spitzenvertreter aus Wirtschaft und Politik beim Davoser Forum dazu auf, die Entwicklung der ärmeren Staaten nicht durch "Barrieren" zu behindern. Bereits am Freitag hatte da Silva auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre, der Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum, eine "neue Weltordnung" gefordert, in der Wohlstand besser verteilt sei und statt Krieg "Verständigung" herrsche.

"Der Wohlstand muss gerechter verteilt werden. Die Kinder in Afrika haben dasselbe Recht auf Nahrung wie die blauäugigen Kinder in den nordischen Ländern", rief da Silva. Zugleich rechtfertigte er in Porto Alegre seinen von vielen Globalisierungskritikern argwöhnisch verfolgten Auftritt vor der internationalen Machtelite in Davos am Sonntag. Brasilien sei "die achtgrößte Macht der Welt" und müsse sich Gehör verschaffen. Er wolle den Reichen und Mächtigen die Meinung sagen, kündigte da Silva an. Beim dritten Weltwirtschaftsforum in Porto Alegre waren 17 Minister der Regierung da Silvas anwesend. Der Staatschef, der sein Amt am 1. Januar antrat, stammt selbst aus ärmlichen Verhältnissen. Er hatte das Weltsozialforum als Gegenveranstaltung zum jährlichen Weltwirtschaftsforum in Davos mitbegründet.

Auch das Kinderhilfswerk Terre des Hommes kritisierte in Porto Alegre, dass das weltweit herrschende neoliberale Wirtschaftsmodell zu massiven Menschenrechtsverletzungen an Kindern führe. Der Präsident der Internationalen Föderation Terre des Hommes, Raphaele Salinari, sagte, Jungen und Mädchen würden als Arbeitssklaven ausgebeutet, als Ware gehandelt und insbesondere in Lateinamerika als Straßenkinder gezielt ermordet.

Salinari machte deutlich, dass er besonders von da Silva eine historische Wende erwarte. Der Präsident könne in Brasilien ein Signal für eine Politik setzen, die internationale Standards wie die UN-Kinderrechtskonvention respektiere und allen Menschen eine Grundversorgung sichere.

In Davos scheiterte am Samstag eine geplante Großdemonstration von Globalisierungskritikern gegen das Weltwirtschaftsforum an strengen Kontrollen der Behörden. Daraufhin kam es in der Hauptstadt Bern sowie in Landquart zu Ausschreitungen, bei denen dutzende Schaufenster zu Bruch gingen. Von mehreren tausend Demonstranten erreichten nur etwa 2000 den Tagungsort Davos mit stundenlanger Verzögerung. Ein großer Teil der Demonstranten blieb in Landquart blockiert, wo die Lage am Nachmittag eskalierte. Die Polizei setzte Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse ein. Auch in Bern gab es Gefechte mit der Polizei. Mehrere Demonstranten wurden festgenommen.

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FR, 27.1.2003
Im Rausch der Begeisterung
Das Weltsozialforum in Brasilien ist Treffpunkt der Jungen wie der Alten auf der Suche nach einer besseren Welt

Von Wolfgang Kunath (Porto Alegre)

Patricio Merino ist zwei Tage und zwei Nächte im Omnibus nach Porto Alegre gefahren. Eigentlich ist Patricio Kunsthandwerker, sein Atelier "Andes del Sur" in Santiago fertigt eher Konventionelles aus Kupfer, und ein paar Schalen mit Inka-Motiven hat der 54-Jährige zum Kauf ausgestellt in diesem abseits liegenden Raum, irgendwo unter den Schrägen der Sportarena, in der die Podiumsdiskussionen des Weltsozialforums stattfinden. Aber er ist nicht der Geschäfte wegen angereist. Er will nicht Kupfer verkaufen, sondern Geschichte vor dem Vergessen retten.

In Patricios Elternhaus las man in den Sechzigern Reader's Digest, und Salvador Allende war für ihn einfach ein Kommunist. Dann hörte er den späteren chilenischen Präsidenten, und seitdem, sagt er, "war ich Allendist". Das ist er geblieben, und deshalb verschwindet auf seinem Stand das Kupfergetriebene auch unter den Allende-Devotionalien. Nein, sepiafarben sind die Fotos nicht. So viel Zeit ist noch nicht vergangen, seitdem der Sozialist und - darauf legt Patricio Wert - Demokrat im Präsidentenamt mit dem Dichter Pablo Neruda fotografiert wurde. Oder mit Fidel Castro. Oder das berühmte Bild mit dem bewaffneten jungen Mann, der schützend vor Allende steht: Beide besorgt in den Himmel schauend am Tag des Putsches, in der letzten Stunde Allendes.

Als der argentinische Revolutionär Che Guevara 1967 erschossen wurde, war Olivier Silberstein noch nicht geboren. Bevor der 20-Jährige aus dem schweizerischen Neuchatel ins Flugzeug nach Porto Alegre stieg, drückte ihm ein Freund ein rotes Che-Guevara-T-Shirt in die Hand, ein Kleidungsstück, mit dem man auf dem Weltsozialforum politisch korrekt gekleidet ist. Der historische Che, sagt Anglistikstudent Olivier, sei weniger wichtig als die Botschaft, die sein Bild aussende: "Du unterwirfst dich nicht, du glaubst an die Veränderung, du kämpfst weiter."

"Ich bin Brasilianerin, ich verstehe die Sprachen der Gringos nicht", sagt Terezinha Aparecida Vasconcelos murrend, weil die Synchronübersetzung wieder mal ausfällt. Terezinha ist Rentnerin aus Rio de Janeiro, sie macht in der Pfarrei Nostra Senhora das Dores Sozialarbeit. Die 24 Stunden im Omnibus hat sie auf sich genommen, "weil ich hier ein bisschen klüger werden will". Ob Terezinha wohl auf ihre Kosten gekommen ist bei der Podiumsdiskussion "Stehen wir vor einer wirtschaftlich-finanziellen Krise?" Eine Debatte, bei der die Redner betonen, sie seien ganz der Meinung ihrer Vorredner, kann eigentlich keine besonders horizonterweiternde Wirkung entfalten. Eine Handvoll linker Politiker, Publizisten und Wirtschaftswissenschaftler wettern mal differenzierter, mal holzschnittartiger über die Ungerechtigkeiten, die das gegenwärtige Weltwirtschaftsmodell erzeugt. "Das wissen wir nun langsam", sagt ein Zuhörer halblaut, als sich die Reizvokabeln gar zu penetrant wiederholen: Imperialismus, Ausbeutung, Abhängigkeit. Noch krasser ist das beim zweiten großen Thema, das das Forum beherrscht: der drohende Krieg gegen Irak. Der Schurke heißt Bush, weitere Debatten überflüssig.

Dennoch erhält eine frühere niederländische Ministerin, die heute bei den Vereinten Nationen arbeitet, eher zurückhaltenden Beifall, als sie - erstens, zweitens, drittens - konkrete Handlungswege vorschlägt: zum Beispiel mehr Regulierungen des Welthandels, damit etwa die großen Agrarfabriken den kleinen Produzenten aus der Dritten Welt nicht die Luft zum Atmen abdrücken. Ja, das sind die Niederungen der konkreten Politik. Kaum geeignet zur Selbstvergewisserung einer weltweiten, linken Bewegung, die sich mit einer gewissen Eigenliebe bescheinigt, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen: Dazu taugen die Parolen besser.

Womit von Luíz Inácio Lula da Silva zu reden wäre. In einem Freilichttheater, in dem sonst ein Teil des umfangreichen kulturellen Begleitprogramms stattfindet, hatte der brasilianische Präsident einen von rauschhafter Begeisterung getragenen Auftritt, in dem er vor allem Moral versprach: Er werde kein Komma von seinen Überzeugungen abstreichen - zu überprüfen am letzten Tag seiner Amtszeit, wenn alle Wahlversprechen erfüllt sein würden. Genau die richtige Tonlage für die 80 000 Zuhörer.

Im City-Hotel, weit abgelegen von den Trampelpfaden des Forums, ist keine Simultanübersetzung nötig; keine zwei Dutzend Leute sitzen hier zusammen. Klein, aber konkret - unter den über 1500 Veranstaltungen gibt es erfreulicherweise auch genug dieser Art. Hier geht es um Staudämme. Die werden heute vor allem noch für die Aluminiumindustrie gebaut, die weltweit so viel Energie verbraucht wie ganz Afrika. Widerstand gegen Staudämme in Brasilien ist auch in Deutschland alt; unter anderem haben sich die Kirchen mit den sozialen und ökologischen Folgen auseinander gesetzt. Und Widerstand ist aktuell: Eine deutsch-brasilianische Infrastrukturinitiative sieht allein 19 Wasserkraftwerke mit einem Investitionsvolumen von über 13 Milliarden Dollar vor. Mit wohltuender Nüchternheit debattieren Brasilianer und Deutsche, was man dagegen tun könnte: Für ein Moratorium kämpfen? Eine weltweite Aluminiumkampagne anleiern? Die Lobby-Arbeit in Brasilien verstärken? Auf stärkeren Druck und höhere Mobilisierung hinwirken? Der permanente Hinweis auf große Schurken, auf übermächtige Kräfte, auf versagende Wirtschaftsstrukturen ist hier nicht nötig.

Das ledergerahmte Lula-Bild für den Schreibtisch neben einer zuckersüßen Kollektion von brasilianischen Petit-Fours in Schokoladenbraun, Maracuja-Gelb und Kokos-Beige - man kann auch entspannt über das Forum schlendern. Oder sich informieren und sich den roten Delegierten-Stoffbeutel mit Infomaterial vollstopfen. Oder sich den Bauch mit eisgekühlter Kokosmilch abfüllen. Oder die ab Nachmittag an allen Ecken und Enden stattfindenden Konzerte anhören. Oder sich die ernsten Gesichter der ausgemergelten Landarbeiter anschauen, die ihre Gewerkschaft in einer Fotoausstellung präsentiert - Beleg dafür, welche sozialen Defizite in Brasilien noch bestehen.

Regina Thais und Tiana Cavalcante finden das Forum "muito legal" - einfach klasse. Die beiden Schülerinnen aus São Paulo kriechen gerade aus einem winzigen Zelt, einem der zahllosen Stoffhäuschen, die die "Stadt der Städte" bilden, das Lager, in dem 30 000 jugendliche Teilnehmer übernachten. Das Forum und auch die Zeltstadt, das sei zwar alles ein bisschen unorganisiert, aber das mache nichts. Das Gemeinschaftsgefühl, das in Porto Alegre herrsche, sei einfach wunderbar. Das entschädige sogar für die Wolkenbrüche am Abend zuvor.

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FR, 27.1.2003
Kommentar
Zwischen den Welten

von Stephan Hebel

Das hat es noch nicht gegeben: Zehntausende Globalisierungskritiker jubeln einem Staatspräsidenten zu. "Lula" hat es geschafft. Jung im Amt, mit noch unversehrter Gerechtigkeits- und Antikriegsrhetorik, hat der zum brasilianischen Staatschef aufgestiegene Gewerkschafter das Weltsozialforum in Porto Alegre zum Tanzen gebracht. Das kommt wahrscheinlich nicht wieder.

Es darf prognostiziert werden, dass die Weiterreise des Präsidenten von Porto Alegre nach Davos den Beginn eines Prozesses markiert, den vor "Lula" schon andere ehrgeizige Politiker aus dem armen Teil der Welt erlebt haben. Die Staatenlenker und Unternehmer aus dem Norden, die sich in der Schweiz versammelt haben, werden ihn entsprechend bearbeiten: Essen für alle, schön und gut, aber wer die schönen Dollars in Sozialprogramme steckt, bekommt es mit den Kreditgebern zu tun. Und dass Opposition gegen Kriegspläne die USA nicht in Spendierlaune versetzt, hat sich ebenfalls herumgesprochen.

Zwischen Porto Alegre und Davos liegen Gräben, die tiefer sind als der Atlantik. Die Leute, die sich in Brasilien versammelt haben, verfügen über starke Werte und starke Worte, aber Macht haben sie nicht. Hinter den Mauern der Davoser Tagungsräume wird "Lula" jene andere Welt vorfinden, in der der Markt heilig und der Krieg - Colin Powell war ja da - nichts anderes ist als der natürliche Weg zur Verteidigung der Freiheit, die sie meinen.

Schöne Worte haben die Leute in Porto Alegre gesprochen. Es wird länger dauern als "Lulas" große Zeit, bis sie auch etwas zu sagen haben.

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FR, 3.2.2003
Netzwerk rüstet zum Kampf gegen Steuerflucht
Im Süden pochen Investoren auf Abgabenfreiheit / Im Norden höhlen Dumpingeffekte Wohlfahrtssysteme aus

Von Wolfgang Kunath

Rund 19 000 Einwohner, aber 300 000 Firmen: Ähnlich wie auf den Jungferninseln sieht es in den meisten Steueroasen aus. Gegen paradiesische Zustände für Steuersünder aus aller Herren Länder haben Globalisierungskritiker auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre ein internationales Netzwerk gegründet.

Aus 14 Ländern kommen die Partner, die gemeinsam mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen gegen Steuerflucht vorgehen wollen. Entwicklungshilfe-Organisationen und Globalisierungskritiker sind darunter, aber auch ein britischer Professor für Wirtschaftsprüfung aus dem Steuerparadies Jersey. Nur öffentlicher Druck, so kalkuliert das Netzwerk, könne die Veränderung eines Systems bewirken, das Milliardenschäden anrichtet und Riesenvermögen von unten nach oben umverteilt.

Auf zehn Billionen Dollar wird das Kapital geschätzt, das vermögende Privatpersonen außerhalb der Grenzen ihrer Heimatländer angelegt haben, um es dem Zugriff des Fiskus zu entziehen - das Dreifache der Geldvermögens der Deutschen. Nicht zu beziffern sind dagegen die Verschiebungen der Gewinne transnationaler Konzerne. Die eröffnen zum Beispiel - eine der klassischen Möglichkeiten - in Steueroasen Tochterfirmen, an die, etwa durch überteuerte Leistungen, Gewinne aus dem Mutterhaus transferiert werden. Über die Größenordnung dieser - nicht illegalen - Form der Steuerflucht gibt es keine Daten, sagt Sven Giegold von der globalisierungskritischen Organisation Attac, die das Netzwerk gegen Steuerflucht mitorganisiert.

Beispiel Peru: Giegold berichtet von einem US-Bergbau-Konzern, der sich für seine Investitionen in dem Andenland das Privileg ausgehandelt hat, überhaupt keine Steuern zu zahlen. Auch wenn es im Einzelfall nicht mit rechten Dingen zugehen mag: "Ein transnationales Unternehmen wird, wenn es in einem Entwicklungsland investiert, den Steuersatz verhandeln, und der wird praktisch immer gleich Null sein." Die Exporte der Entwicklungsländer bestehen heutzutage zu 70 Prozent aus Fertigprodukten, die - anders als standortgebundene Rohstoffe - grundsätzlich überall zu erzeugen sind. Folglich können Investoren stets damit drohen, in ein willfährigeres Land umzuziehen.

Die Folge ist ein Dumpingeffekt. Je mehr "weiche" Steuerländer es gibt, desto größer der Druck, die herkömmlichen Abgabensysteme aufzuweichen. Ein am Ende unsoziales Verfahren: Die Wohlfahrtssysteme der reichen Staaten werden ausgehöhlt. Und wenn die Unternehmensbesteuerung vermindert wird, müssten zum Ausgleich etwa Verbrauchssteuern gesteigert werden, was die kleinen Einkommen überproportional stark trifft: "Die nicht weglaufen können, sind die Dummen."
Die knapp vier Dutzend Länder, die Steuerflüchtlingen paradiesische Zustände bieten, profitieren vor allem von den Registrierungsgebühren der Briefkastenfirmen. Die Jungferninseln bestreiten die Hälfte ihres Staatshaushaltes von 127 Millionen Dollar mit den Gebühren, die sie bei 300 000 Firmen erheben. Vor allem in Steueroasen wie den Cayman-Inseln, die zugleich wichtige Bankplätze sind, schafft das Fluchtgeld Arbeitsplätze in Anwaltskanzleien und Verwaltungsgesellschaften.

Um Jobs geht es auch in Ländern, die sich so sehr um Direktinvestitionen krümmen, dass sie auf Steuereinnahmen zu verzichten bereit sind. Freie Produktionszonen, in denen weder die Steuer- noch die Arbeitsgesetzgebung des jeweiligen Staates gelten, waren ursprünglich als ein Sprungbrett für Entwicklung gedacht. Aber längst hat sich gezeigt, dass Steuerbefreiung als Anreiz ein Verlustgeschäft ist.

Auf 35 Milliarden Dollar jährlich schätzt das britische Hilfswerk Oxfam die Verluste, die Entwicklungsländern durch die niedrige oder entfallende Besteuerung multinationaler Firmen entgehen. Mit den 15 Milliarden Dollar, die vermögende Privatleute aus Ländern der Dritten Welt verschieben, summiert sich das auf 50 Milliarden - die Größenordnung der gesamten Entwicklungshilfe. Wollte man die Zustände ändern, so müssten die Steueroasen mitmachen. Man könnte ihnen finanzielle Anreize bieten, ihnen aber auch drohen, sie vom internationalen Kapitalverkehr abzuhängen, meint Giegold. Darüber hinaus fordert das Netzwerk die Wiedereinführung des so genannten Wohnsitzprinzips, damit die Töchter transnationaler Firmen auf hohem Niveau besteuert werden - das Problem ist freilich, dass die Mütter in Niedrigsteuerländer abwandern könnten.

Auch eine international harmonisierte Mindestbesteuerung wäre denkbar, oder die "Unitary Taxation", nach der die Tochterunternehmen vom Konzern-Weltgewinn einen Satz versteuern müssen, der nach den Umsatzanteilen der Töchter berechnet würde.

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