Pressespiegel
Freitag
Freitag, 31.1.2003
1.700 EIGENE SCHULEN
Die Bewegung der Landlosen in Porto Alegre
von Daniela Dahn
Brasiliens Presse wird von neun Familien beherrscht, die zumeist selbst Latifundien
besitzen. Entsprechend feindselig wird die Bewegung der Landlosen (MST) in der
Öffentlichkeit präsentiert. Man versucht zu unterstellen, in ihren Camps würden
Guerilleros ausgebildet, man würde sich bewaffnen. >>Wie soll man allen
verständlich machen, dass wir friedlich sind und in den Camps unsere Leute
alphabetisieren und mit agrarwirtschaftlichen und rechtlichen Grundkenntnissen ausstatten?<< fragt der für internationale Beziehungen der MST zuständige Egidio Brunetto auf einem Podium des Weltsozialforums.>>Indem
wir unsere eigene Zeitung herausgeben.<<
An diesem Abend wird Brasil de Fato (>>Brasilien in Fakten<<) vorgestellt. Ein unabhängiges linkes Wochenblatt, unterstützt von Gewerkschaften, Linksparteien, NGO und Intellektuellen wie Leonardo Boff (Senior der Befreiungstheologen), Noam Chomsky oder José Saramago.
Glimar Mauro von der Nationalleitung der MST erzählt: Brasilien gehört zu den starken
Industriestaaten, aber 40 Millionen Brasilianer leiden täglich an Hunger, Ungezählte
sterben an Unterernährung. In keinem anderen Staat Lateinamerikas ist das Land so
ungleich verteilt wie in Brasilien. Etwa ein Prozent der Latifúndio - der
Großgrundbesitzer - besitzt fast die Hälfte der kultivierbaren Fläche des Landes. Kein
Wunder, dass sie es nicht nötig haben, ihre teils durch gefälschte Eigentumsurkunden
erworbenen, unermesslichen Flächen auch nur annähernd produktiv zu nutzen. Etwa 100
Millionen Hektar fruchtbares Land liegen brach. Zugleich gibt es schätzungsweise fünf
Millionen Landlose. 1981 begannen einige wenige von ihnen, sich zu organisieren und
ungenutztes Land zu besetzen. Die Bewegung fand trotz aller Repressionen schnell Zulauf.
Nur durch diese Massenbeteiligung konnte durchgesetzt werden, dass die fortschrittliche
Verfassung von 1988 die Enteignung von Ländereien verfügte, die keine soziale Funktion
erfüllen. Doch die damalige Regierung unter Präsident Cardoso nahm ihre eigene
Verfassung nicht ernst. Immer wieder kamen durch den Filz von Großgrundbesitzern und
Regierung Ausnahmedekrete zustande, die festlegten, welche ungenutzten Ländereien unter
Umgehung des Gesetzes nicht besetzt werden durften.
Versuchten es die Landlosen dennoch, wurde sie oft mit Prozessen überschüttet,
inhaftiert oder zu Geldstrafen verurteilt. Welches Risiko die theoretisch im Recht
befindlichen eingingen zeigt die Tatsache, dass zwischen 1988 und 2000 mehr als 1.500
MST-Aktivisten ermordet wurden. Die Mörder konnten von Straffreiheit ausgehen, höchstens
drei sitzen im Gefängnis, sagt mir Johan Paula vom MST-Büro in Brasilia: >>Die
Oligarchien sind stark, Boden bedeutet politische Macht. Eine isolierte Agrarreform wird
nicht gelingen, die Machtstrukturen im Land müssen verändert werden. Wir wollen mit Herz
und Leidenschaft eine solidarische Gesellschaft aufbauen. Wir haben Lula aktiv
unterstützt, haben seinen Sieg als unseren angesehen. Jetzt sind nicht mehr die
Regierenden unser Feind, sondern die Großgrundbesitzer, die allerdings auch im Parlament
stark sind. Die brasilianische Elite will nicht, dass Arme eine eigene Stimme entwickeln,
sie verabscheut organisiertes Volk. Unsere Autonomie werden wir jedenfalls behalten -
sollte es Rückschritte geben, werden wir auch Lula kritisieren.<<
Und die Bewegung der Landlosen hat inzwischen mehr zu verlieren als ihre Ketten. 150.000
Familien haben besetztes Land endgültig zugesprochen bekommen, 70.000 Besetzer warten
noch darauf. Die Bewegung richtete landesweit 1.700 Schulen ein, dazu sechs Laboratorien,
in denen geforscht und produziert wird - unter anderem ökologisches Saatgut oder
Heilkräuter für ein alternatives Gesundheitswesen. Fachleute helfen, mit natürlichen
Materialien wie Lehmziegeln alte indianische Bautraditionen zu beleben, damit das Volk
auch eine architektonische Sprache bekommt und die Bewegung nach außen kenntlich wird.
Die Landlosenbewegung ist durch Spenden und die Erlöse ihrer 80 Kooperativen in der Lage,
kleine Kredite für Ausbildung oder Produktionsgründungen zu geben.
Zum Abschied betont ein derart erfolgreicher Gastgeber bescheiden, dass all dies nur durch
nationale und internationale Solidarität zu erreichen war. Und ich erinnere mich an den
Grundsatz der Befreiungstheologie, den Leonardo Boff am Tag zuvor unter dem Beifall
Hunderter Forumsteilnehmer zitiert hat: >>Wenn wir alle retten, retten wir auch uns
selbst. Wenn wir nur einige retten, verlieren wir alle.<<
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