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Berichte

Tatendrang in Tunis

12. Weltsozialforum: Trotz des jüngsten Terroranschlags in Tunesien versammeln sich Aktivisten, um über Alternativen zu Neoliberalismus und der sich verschärfenden Ungleichheit zu diskutieren

(von Milena Hassenkamp, der Freitag)

Eine Woche nach dem Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis tagt in der Stadt das 12. Weltsozialforum (WSF), es hat am vergangenen Dienstag begonnen und endet am Samstag. Die Diskussionsrunden und Workshops tausende linker Aktivisten, Intellektueller und verschiedenster Nichtregierungsorganisationen auf dem Campus der Universität Tunis finden in Tagen statt, in denen nicht mehr nur die Polizei, sondern auch Armee-Einheiten in der Stadt patroullieren, in der vor vier Jahren der “Arabische Frühling” begann. Sie sollen die Bürger vor weiteren blutigen Anschlägen schützen.

Trauermarsch zur Eröffnung

Die mutmaßlich islamistischen Anschläge mit 21 Toten vom 18. März habe den Tatendrang und Widerstandsgeist der in Tunis versammelten Menschen nicht brechen können, berichtet am Telefon Judith Dellheim, die im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet und gemeinsam mit Kollegen nach Tunis geflogen ist. Mit einem Trauermarsch durch den Regen zum Bardo-Museum  hatte das WSF am Dienstagabend begonnen, Bürger der Stadt hätten die Anteilnahme der Gäste begeistert aufgenommen, sagt Dellheim.

Eine Woche lang sprechen die WSF-Teilnehmer über Alternativen zu Neoliberalismus und sozialer Ungerechtigkeit. Das Themenspektrum der rund 100 Debatten, die täglich stattfinden, ist weit gefächert. Die Debatten kreisen um Migration, Klima, Wirtschaft und Menschenrechte. Die Heterogenität der versammelten Gruppen über das neoliberale Feindbild hinaus ist noch größer als die des Blockupy-Bündnisses, das in Frankfurt am Main die Eröffnung des Neubaus der Europäischen Zentralbank in der vergangenen Woche mit Protesten begleitet hat. So heterogen, dass es auch in diesem Jahr schwer erscheint, einen gemeinsamen politischen Fokus für das Forum zu finden. Eine einheitliche Botschaft des Forums, die politischen Druck ausüben könnte, droht auszubleiben. Seit dem ersten Gipfel des globalisierungskritischen Forums im Jahre 2001 hat sich seine Anziehungskraft immer mehr geschmälert, die Medienaufmerksamkeit ist massiv gesunken. Mit der Abkehr davon, eine Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos zu sein, verliert das WSF auch einen klaren Gegner. Muss nicht gerade das große Schlagwort Kapitalismuskritik plastisch und erfahrbar gemacht werden, um etwas zu bewegen?

Es ist das zweite Mal in Folge, dass das WSF in der tunesischen Hauptstadt stattfindet. Tunis 1 war unter anderem wegen der überproportionalen Präsenz europäischer Akteure kritisiert worden. Tunis 2, schreibt Stefanie Kron im Blog der Rosa Luxemburg Stiftung , solle deshalb politische Gruppierungen vor Ort, wie sie sich mit dem Arabischen Frühlings zahlreich entwickelt haben, weiter stärken.

Lang und korrekt

Das Motto der Demo, das zunächst "Peoples of the world united against terrorism" heißen sollte, wandelte man nach Diskussionen zu einer bedeutend längeren – aber politisch korrekteren Variante um. Den alten Titel hatte man aufgrund der Nähe zum politischem Schlagwort „War on Terrorism“ der Bush-Regierung verworfen. Der neue Titel lautet: "The Peoples of the World United for Freedom, Equality, Social Justice and Peace. In Solidarity with Tunisian People and all Victims of Terrorism against all Forms of Oppressions." Lang, aber korrekt. Wenn linke Gruppierungen zusammen kommen, dann geht es gerade darum. Doch ist nicht, um mit Allgemeinheiten aufzuräumen, gerade eine differenzierte Kritik wichtig, wie sie auch in einem klaren politischen Programm formuliert werden muss? Vor allem, wenn die Teilnehmenden aus so unterschiedlichen Lagern kommen wie beim WSF, das auf seiner Internetseite ausdrücklich schreibt, man könne aufgrund eines großen Meinungsspektrums keine gemeinsame Position oder konkrete Handelsmaximen formulieren.

Man wolle sich mit den Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung befassen und allgemein Bewegungen für ein solidarisches Miteinander mobilisieren, sagt Judith Dellheim: “Die Welt ist veränderbar.” Der politische Einfluss des Sozialforums zeige sich zum Beispiel in Erfolgen wie dem von Syriza in Griechenland, in den progressiven Regierungswechseln in Lateinamerika seit den dortigen Weltsozialforen. Das gerade sei der Erfolg des WSF-Konzepts: Dass von dort Bewegungen ausgingen, die dann global verstärkt würden. Ähnliches sagte auch Blockupy-Sprecher Roland Süß im Interview zu den Frankfurter Demonstrationen am 18.März. Bewegungen sind wichtig, doch sie müssen auch über die Grenzen linker Aktivisten hinaus in den Reihen der Bürger verankert werden, um erfolgreich zu sein.

Der Titel der Diskussionsrunde, in der Dellheim in Tunis spricht, lautet „Kapitaloligarchien herausfordern“. Es seien vor allem deren Rolle und die der Finanzialisierung in den globalen gesellschaftlichen Reproduktionsprozessen, die sozialökologische Alternativen blockierten. Eine radikale Wachstumskritik müsse an dieser Stelle ansetzen, formuliert Dellheim. Das exponentielle Wachstum der Bundesrepublik, so der Konsens in der linken Debatte, gehe mit sozialen, ökologischen und globalen Problemen einher. Eine sozialökologische Transformation, die notwendig wäre, um diese Probleme zu lösen, setze veränderte Kräfteverhältnisse voraus. Kapitaloligarchien müssten entlarvt und angegriffen werden, um diese Veränderungen möglich zu machen. Dazu braucht es konkrete Angriffspunkte.

Erfahrbare Kapitalismuskritik

Um Protestbewegung zu mobilisieren, müsse Kapitalismuskritik „erfahrbar und für den Menschen attraktiv“ gemacht werden, sagt Dellheim. Das hänge viel mit dem Selbstverständnis der Linken zusammen. „Nur in und durch Selbstveränderung und damit durch veränderte Praxen“ ließe sich die Kritik umsetzen. Das bedeute „im Rahmen der Möglichkeiten selbstbestimmt, solidarisch und ökologisch zu handeln, die gesellschaftlichen Grenzen dafür politisch immer wieder in Frage zu stellen und anzugreifen“.

Konkret müsse man anders leben, sich anders bewegen und ernähren, anders arbeiten, anders seine Freizeit verbringen. Nur der Wille zu diesem Handeln reiche nicht aus. Finanzoligarchien herauszufordern heiße beispielsweise Initiativen für eine andere Mobilität, für unentgeltlichen öffentlichen Nahverkehr durchzusetzen, wie es in der estischen Hauptstadt Tallinn geschehen ist. Oder für Gesundheitsleistungen, die durch alle genutzt werden können, wie in den solidarischen Gesundheitszentren von Griechenland zu kämpfen. Dies seien Beispiele, bei denen sich Menschen Wissen über Zusammenhänge angeeignet und sich zusammengeschlossen hätten, um etwas zu verändern. Damit wurden zumindest Auto- und Pharmakonzerne „angekratzt“. Wenn sich diese Initiativen weiterentwickelten, dann könnten Produktions- und Reproduktionsstrukturen wirklich in Frage gestellt werden.

„Eine andere Welt ist möglich“, heißt es auf der Internetseite des WSF. Für dieses Ziel braucht es konkrete Projekte und eine größere mediale und politische Aufmerksamkeit. Kapitalismuskritik darf sich nicht in Allgemeinheiten verlieren, sonst wird sie beliebig und unfähig, ihre Ziele zu erreichen. Gerade, dass in der linken Szene weitgehend ein Konsens über das Feindbild Austeritätspolitik herrscht, macht es notwendig, weiter zu gehen, als „nur“ bis auf die Straße. Dafür muss man eine Kritik, die ein bisschen wie ein Damoklesschwert über der linken Protestbewegung schwebt auf Lebenswirklichkeiten herunterbrechen, mit denen jeder einzelne etwas anfangen kann.

 

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