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Wenn die Geschichte sich dreht

Weltsozialforum nach - Enron-Skandal und Argentinien-GAU offenbaren erneut die Legitimationskrise der globalen Eliten

(von Walden Bello, Freitag 06)

Weltsozialforum nach einem turbulenten Jahr - Enron-Skandal und Argentinien-GAU offenbaren erneut die Legitimationskrise der globalen Eliten

Zum zweiten Mal nach dem spektakulären Meeting im Vorjahr trifft sich die Avantgarde der Globalisierungskritiker zwischen dem 31. Januar und 5. Februar im brasilianischen Porto Alegre. Die Vorarbeit zum Zweiten Weltsozialforum (WSF II) war durch den 11. September und die Luftangriffe auf Afghanistan überschattet. "Weil der Krieg als Mittel der Konfliktlösung wieder hoffähig sein soll, will Porto Alegre zeigen, dass Kriegslogik keine Zukunft hat", meint Olívio Dutra, der Gouverneur des gastgebenden Bundesstaates Rio Grande do Sul. In Analogie zum Vorjahr gilt 2002 das Motto: "Eine andere Welt in Frieden ist möglich"

Eigentlich ist Porto Alegre alles andere als eine Stadt der Dritten Welt. Gelegen in Rio Grande do Sul, einem der wohlhabendsten Bundesstaaten Brasiliens, und mit einer vornehmlich von europäischen Einwanderern abstammenden Bevölkerung von 1,2 Millionen gehört diese Metropole eher zur Ersten Welt, was Infrastruktur und soziale Dienste anbelangt. Gemessen an der Lebensqualität gibt es in Brasilien kaum einen Ort, der besser abschneidet. Dennoch ist Porto Alegre als Gastgeber des Weltsozialforums im vergangenen und in diesem Jahr zum Symbol geworden - für die immer noch zarte Pflanze einer weltweiten Bewegung gegen eine von Konzernen und Großbanken beherrschten Globalisierung.

Mit dem Slogan "Eine andere Welt in Frieden ist möglich" sind Ende Januar 2002 mehr als 70.000 Teilnehmer gekommen, das Sechsfache des Auditoriums von 2001 - Fischer aus Südostasien, Bauern aus Ostafrika, Gewerkschafter aus Thailand und indígene Gruppen Zentralamerikas sind ebenso dabei wie Aktivisten aus den Ländern des Nordens. Man trifft Persönlichkeiten, die das ganze Spektrum dieser neuartigen Bewegung verkörpern wie Noam Chomsky aus den USA oder Vandana Shiva aus Indien oder Maude Barlow aus Kanada und Samir Amin aus Ãgypten.

Das Weltsozialforum entstand als Kontrapunkt zum Weltwirtschaftsforum, das seit Jahren im schweizerischen Davos stattfand. Vorgeschlagen von einer Koalition brasilianischer Bürgerrechtsorganisationen und unterstützt vom linken Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei/PT), der sowohl in Porto Alegre als auch im Bundesstaat Rio Grande do Sul regiert, wurde die Idee schnell auch in Europa aufgegriffen, etwa von Attac in Frankreich oder Novib, der niederländischen Vereinigung für internationale Entwicklungskooperation, so dass in einer Rekordzeit von nur acht Monaten das erste Forum zustande kam.

Zu den Höhepunkten des vergangenen Jahres zählte eine vom Fernsehen live übertragene Debatte zwischen Prominenten in Porto Alegre und Davos. Die Financial Times nannte es seinerzeit den Zusammenprall zweier Welten: die Superreichen dieser Erde trafen auf die Wortführer der überwältigenden, aber weitgehend marginalisierten Mehrheit. Besonders in Erinnerung blieb das Wortgefecht zwischen Hebe de Bonafini, der Sprecherin der argentinischen Bürgerrechtsbewegung Madres de la Plaza de Mayo, und dem weltweit wohl bekanntesten Finanzspekulanten George Soros.

Seitdem ist das Prestige des Weltsozialforums beachtlich, während das erwähnte Weltwirtschaftsforum an Einfluss verloren hat. Es war daher nur folgerichtig, dass die Schweizer Regierung das Treffen von Davos, das als Inkarnation von Geld und Macht am Pranger stand, nicht länger beherbergen wollte. Ende Januar 2001 hatte die Schweiz das größte Polizeiaufgebot ihrer Geschichte mobilisiert, um Globalisierungskritiker vom Schauplatz Davos fernzuhalten. Die Hysterie nach dem 11. September hätte der Schweiz in diesem Jahr vermutlich einen logistischen Alptraum beschert, so dass entschieden wurde, New York den Vorzug zu geben. Allerdings befürchten viele Honoratioren aus den Chefetagen, ohne das Ambiente der Schweizer Alpen fehle die entscheidende Voraussetzung für vertrauliche Runden.

Lähmung nach dem 11. September
Porto Alegre dagegen braucht keine Exklusivität und lebt von der Vielfalt, auch inhaltlich. In diesem Jahr gibt es 26 Großveranstaltungen zu vier Themengruppen: "Produktion von Reichtum und soziale Reproduktion", "Zugang zu Wohlstand und nachhaltige Entwicklung", "Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit" und "Politische Macht und Ethik in der neuen Gesellschaft", dazu ein Tribunal zum Verschuldungsproblem. Gleichzeitig organisieren die brasilianischen Gewerkschaften mit der Bewegung der Landlosen (MST) Demonstrationen, um angesichts einer weltweiten Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu werben.

Porto Alegre 2002 folgt einem ereignisreichen Jahr. Nach dem G 8-Treffen von Genua, nach den teilweise tumultartigen Demonstrationen mit mehr als 300.000 Teilnehmern wurde in der Weltpresse darüber spekuliert, ob sich die globale Elite künftig überhaupt noch in "nicht-autoritären Staaten" treffen sollte. Und das Angebot der kanadischen Regierung, den nächsten G8-Gipfel in der Einsamkeit der Rocky Mountains abzuhalten, bestätigt die grassierende Angst vor der Demokratie der Straße.


Dann kam der 11. September, der alle, die gegen die Arroganz der Macht kämpfen, zunächst zu lähmen schien. Ende September 2001 wäre es anlässlich des Jahrestreffens von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) in Washington sicherlich zu weiteren Demonstrationen gekommen. Da dieses traditionelle Meeting beider Institutionen kurzerhand abgesagt wurde - aber auch aus Rücksicht gegenüber der Stimmung in den USA -, war der Friedensmarsch, den man dann in Washington abhielt, wohl die richtige Antwort.

Nach dem 11. September witterte das Establishment die Chance, ein Stück weit aus der eigenen Legitimationskrise herauszukommen. So wurden schon im November während der Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Doha (Qatar) die meisten Entwicklungsländer überredet, eine neue Verhandlungsrunde über weitere einschneidende Handelsliberalisierungen zu billigen. Ohne diese Zustimmung, so wurde seitens der Industriestaaten argumentiert, hätten die Entwicklungsländer selbst die Verantwortung für eine verschlechterte weltwirtschaftliche Lage zu tragen, die als Konsequenz des Angriffs auf die Zwillingstürme von New York wahrscheinlich sei. Das WTO-Sekretariat und die Regierung des Scheichtums Qatar hatten die Zahl der zugelassenen Nichtregierungsorganisationen (NGO) vorsorglich auf 60 begrenzt, und so kam es im Unterschied zu Seattle (dem vorangegangenen WTO-Gipfel 1999) und Genua zu keinen nennenswerten Demonstrationen. Unter diesen Umständen brach der Widerstand der Entwicklungsländer gegen die Vorschläge des Nordens schnell zusammen.

Perfekter Zeitpunkt für alle
Wäre das Weltsozialforum Ende November oder Anfang Dezember abgehalten worden, hätten die Organisatoren in Porto Alegre wahrscheinlich erhebliche Schwierigkeiten gehabt, dafür zu mobilisieren, vor allem auch wegen des Triumphs der Bush-Regierung in Afghanistan.


In den vergangenen Wochen hat sich dagegen die Geschichte - listig wie immer - längst wieder gedreht. Washington wurde gleich von zwei Schocks massiv getroffen. Das Enron-Debakel zeigte und zeigt den Amerikanern, welch explosive Mischung entstehen kann, wenn sich eine rigide Deregulierung mit Korruption verbindet. Und dann auch noch der "Fall Argentinien": Mit 140 Milliarden Dollar derzeit nicht rückzahlbarer Auslandsschulden, mit einer kollabierenden Industrie, die täglich 2.000 Argentinier neu unter die Armutsgrenze fallen lässt, ist das Land am Rio de la Plata eine Mahnung an alle, denen man Öffnung und Liberalisierung der Märkte als Gebot wirtschaftlichen Vernunft empfiehlt. Mit diesem doppelten Desaster - Enron und Argentinien - ist die Legitimationskrise nicht nur der Washingtoner, sondern auch der globalen Eliten wieder voll ausgebrochen. Porto Alegre bietet den geeigneten Schauplatz und den perfekten Zeitpunkt für alle, die jetzt erst recht daran festhalten wollen: "Eine andere Welt ist möglich."

 

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