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BerichteWeltsozialforum: Zwischen Aufbruch und Institution von Kirsten Bredenbeck (Kooperation Brasilien e.V.)
Das Amphitheater Pôr do Sol von Porto Alegre hat sich in der letzten Stunde zusehends gefüllt. Schwitzend stehen die Menschen in der prallen Sonne und warten auf Lula. Aus tausenden Kehlen schallt die weltweit aus Fußballstadien bekannte Melodie über den Platz: "Ole, ole ole ola, Lula, Lula!". Daumen und Zeigefinger beider Hände werden weithin sichtbar zu einem L geformt in die Höhe gehalten - L wie Lula. Hier wird sein Wahlsieg ein weiteres Mal gefeiert, und das international. Denn zusätzlich zu den vielen BrasilianerInnen sind auch etliche ausländische TeilnehmerInnen des Weltsozialforums zum Amphitheater gekommen. 80.000 Menschen sollen auf dem Platz sein, Tausende weitere stecken auf dem Weg hierher im Stau fest. Für viele TeilnehmerInnen des Weltsozialforums ist der Auftritt von Luiz Inácio "Lula" da Silva der Höhepunkt des Weltsozialforums. Gegenöffentlichkeit schaffen 100.000 Menschen sind in diesem Jahr zum Weltsozialforum gekommen. Dies sind fast doppelt so viele wie im letzten Jahr, und fünfmal mehr als 2001. Die Bewegung ist stark und eindrucksvoll geworden. Aber wie in den vergangenen Jahren kommen nur wenige der TeilnehmerInnen aus Asien oder Afrika. Die Reisekosten sind zu hoch. Gekommen sind vor allem Menschen aus Brasilien und den lateinamerikanischen Ländern, aus Europa und Nordamerika. Den bunt gemischten Initiativen und Organisationen will das Forum eine offene Diskussionsplattform schaffen, ohne sich dabei den großen Wurf einer allgemeingültigen Alternative anzumaßen. KritikerInnen betrachten dies als Schwäche des Weltsozialforums und bezeichnen es als unpolitisch. Auf dem Weltsozialforum würden Alternativen und neue Strategien fehlen, klagte beispielsweise das Handelsblatt. Viel wichtiger aber als eine hübsch formulierte Abschlusserklärung und eine zentral vorgegebene Marschrichtung ist etwas anderes: Das Forum setzt Prozesse in Gang. Die persönlichen Kontakte, die auf dem Weltsozialforum entstehen, sind entscheidend für eine kontinuierliche Kampagnenarbeit und deren Abstimmung in der Folgezeit per E-Mail. Auf dem vorjährigen Weltsozialforum 2002 eröffneten die lateinamerikanischen AktivistInnen die Kampagne gegen die Pan-Amerikanische Freihandelszone, und die Stopp-GATS-Kampagne wurde hier geboren. Ohne das Weltsozialforum hätten beide wohl schwerlich ihre Tragweite und Schlagkraft erhalten. Namen verbinden sich auf dem Treffen mit Gesichtern. Für viele Organisationen und Initiativen ist das Weltsozialforum so etwas wie eine riesige globale Vernetzungsstelle. An der hieraus entstehenden Dynamik muss man das Forum messen. Netzwerke dieser und ähnlicher Art, im Großen und im Kleinen, entstehen oder festigen und erweitern sich auf dem Weltsozialforum. Aus dem Europäischen Antikriegsbündnis ging das "Globale Widerstandsnetzwerk gegen den Krieg" hervor, an dem sich FriedensaktivistInnen aus allen Kontinenten beteiligen. Die Via Campesina startete ihre Kampagne "Saatgut als Erbe der Menschheit". ATTAC und weitere gründeten ein internationales Netzwerk gegen Steueroasen. Die Kampagne gegen die Privatisierung von Wasser hat neue MitstreiterInnen gewonnen, andere haben die Kampagne gegen die Pan-Amerikanische Freihandelszone und die Stopp-GATS-Kampagne weiter vorangetrieben, um nur einige Beispiele zu nennen. Natürlich gab es auch die medienwirksamen Großveranstaltungen, die in diesem Jahr wesentlich größer ausfielen als in den Vorjahren. Wer gerade einmal Pause machte und sich etwas für`s Herz gönnte, konnte das Weltsozialforum als eine riesige politische Tankstelle nutzen und die Ikonen der globalisierungskritischen Bewegung einmal live erleben. Namhafte GlobalisierungskritikerInnen traten im Stadion Gigantinho im südlichen Zentrum der Stadt Porto Alegre vor zehntausenden von Zuschauer- und hörerInnen auf. Es entsteht ein zunehmender Personenkult um die immergleichen Leute. Und allein aufgrund der Größe der Veranstaltungen war es gar nicht mehr möglich, auf diesen Podien neuen Strategien zu entwickeln geschweige denn zu debattieren. Wichtig war hier vor allem, Zeichen nach außen zu setzen und Identität nach innen zu stiften. Die inhaltliche Auseinandersetzung fand in kleinerem Rahmen statt. Selbstorganisation im Chaos Doch zunächst sah es gar nicht nach inhaltlicher Auseinandersetzung aus: Das Riesentreffen schien die Kapazitäten der OrganisatorInnen zeitweise zu sprengen. Das Programm des Weltsozialforums war lange nicht erhältlich. Erst am Eröffnungstag des Forums erschien es - doch zunächst nur im Internet. Gedruckte Programme gab es erst am Nachmittag des ersten Konferenztages. Kaum ein Mensch wusste zwischenzeitlich, wo was wann stattfinden sollte. Desorientierung herrschte vor. Häufig waren nicht einmal die Veranstaltenden selbst über Ort und Zeit ihres Workshops auf dem Laufenden. Das Weltsozialforum drohte kurzfristig im Chaos unterzugehen. Und so kam es, dass viele derjenigen, die einen Workshop angemeldet hatten, am ersten Tag komplett mit ihrer Selbstorganisation und Eigenwerbung beschäftigt waren, anstatt das Weltsozialforum zu genießen. Zum Beispiel Birgit Zimmerle vom Deutschen Carajás Forum. Der vorher erwähnte Workshop tauchte nämlich gar nicht erst im offiziellen Programm auf - wie übrigens etliche weitere auch nicht. Und so organisierte Birgit Zimmerle kurzerhand selbst einen Tagungsraum, fertigte Flugblätter für den Workshop an, stellte sich auf das Gelände der katholischen Universität und verteilte die Flugblätter. Viel mitgekriegt vom ersten Tag des Weltsozialforums hat sie dabei nicht, und vielen ihrer MitstreiterInnen wird es ähnlich ergangen sein. Oder schlimmer: Etwa vierhundert Seminare und Workshops fielen aufgrund des organisatorischen Chaos aus. Einige der diesjährigen TeilnehmerInnen werden es sich wohl beim nächsten Weltsozialforum gründlich überlegen, ob sich die weite Reise lohnt. Aufbruchstimmung? Zurück zu den Großveranstaltungen. Hier wird der emotionale Tank gefüllt. Eine Stunde vor dem Auftritt von Eduardo Galeano, Jean Ziegler, Leonardo Boff und Rhada Kumar war das Stadion des Gigantinho bereits mehr als überfüllt. Tags darauf, vor der Rede von Noam Chomsky und Arundhaty Roy, verhielt es sich nicht anders. Mühevoll drängelten die Menschen sich durch den engen Gang im unteren Teil der Arena. Bis zu einer halben Stunde dauerte es, bis man hier einen Platz gefunden hatte. Später kam man gar nicht mehr in das Stadion hinein. Und dann, endlich, den Po auf einer harten Kante am Ende einer Treppe im Gang, sogar noch mit halbwegs guter Sicht auf die große Leinwand und das Podium - und natürlich auf die Menschenmassen. Der Sänger auf der Bühne, der die Zeit vertreiben soll, bis die Größen der Bewegung an das Podium treten, stimmt ein Lied aus der Zeit des brasilianischen Widerstands gegen die Militärdiktatur an. In der Halle erhebt sich tausendfach der Gesang. Und schon kurz nach Ende des Lieds hat jemand einmal mehr das Lula-Lied angestimmt, und der ganze Saal jubelt. Vieles von der Aufbruchstimmung in diesem Jahr ist wohl viel mehr dem Wahlsieg von Lula zuzuschreiben als dem Weltsozialforum. Dann flattert eine riesige Patchwork-Fahne aus allen Flaggen der Welt im Stadion und wird weitergereicht. Es sieht aus, als würde sie über die Ränge laufen. Zu den Klängen von "Imagine" wird ein Friedensvertrag verlesen, den eine israelisch-palästinensische Arbeitsgruppe auf dem Weltsozialforum erarbeitet hat. Die Menschen stehen auf und fassen sich ergriffen an den Händen. Hier, in dieser mit mehr als 20.000 Menschen gefüllten Halle kurz vor der Abschlussdemonstration, findet die eigentliche Abschlussveranstaltung des Weltsozialforums statt. Ernüchternd dagegen die offizielle Abschlussveranstaltung mit Pressekonferenz am nächsten Morgen. Im Gegensatz zur Vorabendveranstaltung im Stadion Gigantinho war der kleine Saal in der katholischen Universität knapp gefüllt. Viele AktivistInnen waren bereits abgereist. Fragen der Presse und des Fernsehens wurden sachlich beantwortet. Als eine Sängerin zum Abschluss ein bekanntes lateinamerikanisches Lied anstimmte, standen die ZuhörerInnen auf und gingen ihrer Wege. Ende der Vorstellung. Die Institutionalisierung des Weltsozialforums war nicht mehr zu übersehen. Manch eine wird in diesem Moment sehnsüchtig an das Jahr zuvor gedacht haben, als die Menschen am Ende bewegt zu den Rhythmen klatschten und sangen, auf den Stühlen tanzten und kein Einhalten mehr finden konnten. Wandel der Prinzipien Die Bewegung ist stark und eindrucksvoll geworden. Auf den Großveranstaltungen lässt es sich in Emotionen baden, während man in vielen Workshops konzentriert Netzwerke schmiedet. Wieder woanders wird öffentlich getan. Die Bewegung verändert Stück für Stück ihr Gesicht. Das Bild der Teilnehmenden und beteiligten Organisationen wird immer etablierter. Die International Labour Organisation der UN war ebenso in Porto Alegre wie aus Deutschland die bundeseigene Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit oder die parteinahen Stiftungen der SPD, Grünen und PDS. Das Weltsozialforum ist in, es ist ein Muss für viele Organisationen, dabei zu sein, sich dort umzusehen, und vor allem: gesehen zu werden. Es sind nicht mehr nur die ursprünglichen sozialen Bewegungen und engagierten Nichtregierungsorganisationen, die sich hier austauschen. Dies schafft gesellschaftliche Breite und vor allem Druck auf Veränderung. Es verändert aber auch das Weltsozialforum selbst. Schon haben die Regierenden das Weltsozialforum für sich entdeckt, wenn auch zunächst nur die aus Lateinamerika. Eigentlich lässt die Charta der Prinzipien des Weltsozialforums die offizielle Teilnahme von RegierungsvertreterInnen am Forum, wie im Falle Lula, gar nicht zu. Die OrganisatorInnen des Weltsozialforums entschlossen sich zu einer Ausnahme: Bei der traditionellen Verquickung zwischen Arbeiterpartei und den meisten sozialen Bewegungen in Brasilien war eine klare Abgrenzung zur PT sehr schwierig - und die Freude der TeilnehmerInnen auf die Rede von Lula zu hoch. Zudem war Lula für die BrasilianerInnen bereits in den Jahren zuvor der Star des Weltsozialforums gewesen, und wird von den meisten als Teil desselben wahrgenommen. Nur sind solche Ausnahmen eben nicht folgenlos, wie sogleich am Beispiel Hugo Chávez zu sehen war. Nur gut, dass das nächste Weltsozialforum in Indien stattfinden wird. Nicht nur, dass die asiatischen Bewegungen damit endlich die Chance bekommen, sich stärker einzubinden. In Indien gibt es auch keine so starke Verknüpfung zwischen einer politischen Partei und den sozialen Bewegungen wie in Brasilien. Parteipolitischer Vereinnahmung wird dort mit Sicherheit konsequenter entgegengetreten. Und dies ist nur zu wünschen. Damit das Weltsozialforum auch in Zukunft seine Zeichen noch selber setzt - und diese ihm nicht von anderen gesetzt werden. |
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Aus www.weltsozialforum.org, gedruckt am: Di, 14.05.2024
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