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Pressespiegel

Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

FAZ, 22.1.2003
Globalisierungskritik in Porto Alegre
 
Die Sorge vor einem neuen Golfkrieg treibt auch die Globalisierungskritiker um: Wie beim Weltwirtschaftsforum in Davos steht die Irak-Krise ganz oben auf der Agenda des Weltsozialforums ab Donnerstag im brasilianischen Porto Alegre. Die Gegner von Neoliberalismus und einer Vormachtstellung der USA in der Welt wollen bis zum 28. Januar unter anderem über Möglichkeiten einer friedlichen Beilegung von Konflikten beraten.

Die Friedensdebatte auf dem dritten Weltsozialforum findet just an dem Tag statt, der möglicherweise über Krieg oder Frieden in Irak entscheidet: Am 27. Januar muss UN-Chefinspektor Hans Blix vor dem UN-Sicherheitsrat über den Stand der Waffenkontrollen Bericht erstatten. Zu der Frage, wie angesichts der "Kriege des 21. Jahrhunderts" trotzdem Frieden möglich ist, soll in Porto Alegre eine gemeinsame Erklärung verabschiedet werden.

Die wohl meistbesuchte Veranstaltung wird im Anschluss voraussichtlich eine Diskussion mit dem linksgerichteten US-Intellektuellen Noam Chomsky sein, der im vergangenen Jahr in Porto Alegre bereits die militärische Aufrüstung der USA infolge des 11. September angeprangert hatte. Der Linguistik-Professor am renommierten Massachusetts Institute of Technology in Boston gehört zu den bekanntesten Kritikern der Globalisierung und der US-Politik.

Selbst bestimmte Ernährung

Ein weiterer wichtiger Themenkomplex widmet sich dem Recht der Völker auf eine selbst bestimmte Ernährung und Landwirtschaft. So könne es nicht sein, dass etwa Schwellenländer und Dritt-Welt-Staaten landwirtschaftliche Produkte nur für den Export produzierten und gleichzeitig Lebensmittel importierten, betont Catherine Godard von einer katholischen Nicht-Regierungsorganisation. So gehörten Brasilien und Chile zu den größten Getreide-Exporteuren, während die eigene Bevölkerung Hunger leide. Zu diesem Bereich dürfte insbesondere der brasilianische Präsident Luiz Inácio "Lula" da Silva auf dem Sozialforum etwas zu sagen haben, der den Kampf gegen den Hunger zum Hauptziel seiner Amtszeit erklärt hat. Kirchen, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen fordern etwa Zugang zu Saatgut, Land und Wasser für Kleinbauern und Landlose.

Wichtige Forderung der Konferenz wird auch der Zugang für alle Menschen zu lebensnotwendigen Medikamenten, vor allem zur Aids-Therapie, sein. Das Recht auf Nahrung, sauberes Trinkwasser, Gesundheit und menschenwürdige Lebensbedingungen sind ebenfalls ein wichtiger Themenschwerpunkt. Bei dem sechstägigen Treffen wollen sich die Teilnehmer auch mit neuen Regierungsformen, der Wirtschaftskrise und einer stärkeren Beteiligung der Menschen an der Politik befassen. Als prominenter Referent reist unter anderem der frühere portugiesische Präsident Mario Soares an. Rund einhundert weitere Seminare und Workshops befassen sich mit Fragen der Nachhaltigen Entwicklung, Menschenrechten oder der multikulturellen Gesellschaft.

Eigenes Profil

Die Konferenz, die sich ursprünglich als Antwort auf das Weltwirtschaftsforum verstand, hat inzwischen ein eigenes Profil als Gegengipfel der alternativen Lösungen entwickelt: Porto Alegre habe sich "frei von Davos" gemacht, sagt Mit-Initiator Benoit Berger. "Die Menschen kommen her auf der Suche nach Alternativen, nicht so sehr gegen die Globalisierung, sondern für eine neue Art der Globalisierung, in der der Mensch wieder im Mittelpunkt steht."

Die Zahl der Suchenden wird immer größer: Die Veranstalter erwarten in diesem Jahr 100.000 Menschen aus 157 Staaten. Im Vorjahr waren es noch 55.000 und 2001 20.000. Rund 1.800 Teilnehmer kommen aus den Vereinigten Staaten. Text: AFP

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FAZ, 23.1.2003
Porto Alegre zum Dritten: Expansion des Weltsozialforums

Von ANJA-ROSA THÖMING

In Porto Alegre redet man von nichts anderem als vom "Forum". An den roten Taxis prangt der Aufkleber "Porto Alegre 2003: Fórum Social Mundial". Das "Weltsozialforum" tagt zum dritten Mal von heute bis zum 28. Januar in der südbrasilianischen Hafenmetropole. Seit Wochen berichten die Zeitungen über die Vorbereitungen der Großveranstaltung, bei der hunderttausend Besucher aus 120 Ländern erwartet werden, doppelt so viele wie vor einem Jahr. Alle Hotels sind ausgebucht, daher werden viele Teilnehmer in privaten Haushalten unterkommen. Entsprechend einem Grundgedanken des Forums wird diese Art der Gastfreundschaft zum solidarischen Akt erklärt: "hospedagem solidaria". Für die Stadt ist das Weltsozialforum eine feste Größe geworden: ein wirtschaftlicher Faktor und ein identifikatorischer Faktor, der die Bewohner stolz macht, daß Porto Alegre nun weltbekannt ist. Denn die touristischen Reize der Stadt am Rio Guaíba mit dem angeblich schönsten Sonnenuntergang der Welt sind eher verborgener Natur. Deshalb wird das Forum von den Bürgern der Millionenstadt einhellig begrüßt, wie sehr auch die Meinungen in politischen oder fußballerischen Fragen auseinandergehen mögen. Zumal das Forum ganz konkrete Effekte hat: Das Kernstück der Stadtregierung in Porto Alegre, der Bürgerhaushalt ("Orçamento participativo"), findet weltweit als nachahmenswerte Praxis Beachtung. Das erste Sozialforum 2001 profitierte noch von der euphorischen Aufbruchswoge eines friedlichen, positiv gestimmten Sozialgipfels als Gegenstück zum Weltwirtschaftsforum in Davos. An dessen Ende stand damals denn auch die brisante Videokonferenz mit dem "feindlichen" Lager des Elitetreffens in Davos. Jetzt aber kristallisieren sich klarere Linien in der inhaltlichen Debatte heraus, die freilich immer noch durch eine enorme Vielstimmigkeit geprägt ist. Eine Abschlußerklärung etwa wird verweigert. Das Sozialforum versteht sich schließlich als Gesprächsraum für soziale Bewegungen und Netzwerke der Bürgergesellschaft. Die teilnehmenden Organisationen haben nur ein gemeinsames Ziel: Widerstand gegen die Beherrschung der Welt durch das Kapital. Deshalb beginnen die Konferenzen in Porto Alegre zum Thema "Gegen Militarisierung und Krieg" mit dem pakistanischen Schriftsteller Tariq Ali, der gerade erst in Berlin sprach (F.A.Z. vom 21. Januar), und der amerikanischen Menschenrechtsaktivistin Medea Benjamin. Am zweiten Tag steht eine Fundamentalismus-Debatte auf dem Programm sowie die "Krise des internationalen Finanzsystems". Dazu wird auch der brasilianische Präsident Lula erwartet, bevor er weiter nach Davos reist. Am vorletzten Tag soll es um "Medien und Globalisierung" gehen sowie um "Kino und Politik: Gegen die Homogenisierung der Vorstellungskraft" (mit den Filmregisseuren Citto Maselli aus Italien und Samira Makhmalbaf aus Iran). Abschließend wird am 27. Januar gefragt: "Wie kann man der Großmacht entgegentreten?" Dazu werden sich der amerikanische Philosoph Noam Chomsky und die indische Schriftstellerin Arundhati Roy äußern. Das Forum wird auch in musikalischer Hinsicht ein Großereignis. Wenn in Open- air-Konzerten namhafte Musiker Brasiliens auftreten, wird so mancher hoffen, daß auch im nächsten Jahr Porto Alegre wieder Austragungsort des Weltsozialforums sein wird. Kenner meinen aber bereits zu wissen, daß sich dann die südamerikanischen Globalisierungskritiker auf die globale Reise machen müssen: nach Indien.

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FAZ, 23.1.2003
"Wir Gewerkschaften sind nicht gegen die Globalisierung"
DGB-Chef Michael Sommer über seine Teilnahme am Weltwirtschaftsforum in Davos
 
Heute beginnt das Weltwirtschaftsforum in Davos. Unter den mehr als 2000 Teilnehmern aus Politik, Wirtschaft und Kunst ist der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Michael Sommer, einer der wenigen Arbeitnehmervertreter.

Das Weltwirtschaftsforum in Davos gilt vielen als internationaler Kapitalistenclub, angereichert mit einigen nahöstlichen Potentaten. Welche Rolle kann dort ein Gewerkschaftsführer aus Deutschland spielen?

Ich widerspreche. Das Weltwirtschaftsforum ist längst kein Club der globalen Kapitalisten mehr. Das Teilnehmerspektrum ist viel bunter und vielschichtiger geworden. Schwarzweißdenken ist ein Ding der Vergangenheit. Mehr als 20 Gewerkschaften aus der ganzen Welt nehmen am Weltwirtschaftsforum teil, ebenso wie Künstler, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftler. Das fördert den Dialog enorm.

Welche Botschaften bringen Sie als DGB-Vorsitzender mit?

Wir Gewerkschaften wollen deutlich machen, daß wir nicht gegen die Globalisierung sind. Sie muß politisch aber so gestaltet werden, daß die Früchte der Globalisierung gleichmäßiger verteilt sind. Das neoliberale wirtschaftspolitische Paradigma, international Washington-Konsens genannt, hat in vielen Ländern Armut und Ungleichheit verschärft. Glücklicherweise erkennen aber immer mehr Unternehmen, daß sie auch soziale Verantwortung tragen. Es gibt kein Menschenrecht auf Gewinnmaximierung oder freien Handel, aber ein Menschenrecht auf ein Leben in Würde und frei von Armut.

Ist es nicht von Nachteil, daß Sie auf keinem offiziellen Podium auftreten?

Nein. Manchmal ist es gut, zuzuhören und Gespräche im kleineren Kreis zu führen. Das Weltwirtschaftsforum bietet auch Gelegenheit, sich über neue Ideen zu internationalen Fragen zu informieren. Schon häufig wurde Davos als Resonanzboden für innovative Konzepte benutzt. Darauf bin ich sehr gespannt.

Viele Teilnehmer werden Sie als die Verkörperung dessen ansehen, was die gegenwärtige Schwäche Deutschlands ausmacht. Mindert das nicht Ihre Überzeugungsfähigkeit?

Nächste Frage bitte!

In welchen Kreisen werden Sie sich bewegen?

Ich werde das Gespräch mit den deutschen und internationalen Wirtschaftsvertretern suchen, abseits vom Tagesgeschäft. Aber natürlich auch mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Gewerkschaften. Außerdem sind Gespräche geplant mit dem Generaldirektor der Welthandelsorganisation, dem brasilianischen Präsidenten, dem Generalsekretär der OECD und dem Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation.

Sind die Globalisierungskritiker Gesprächspartner für Sie?

Selbstverständlich. Gewerkschaften leben in beiden Welten, sprechen mit den Befürwortern der Globalisierung, aber eben auch mit ihren Kritikern. Während ich in Davos bin, ist eine Delegation deutscher Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen in Porto Alegre beim Weltsozialforum.

Werden Sie sich der geplanten Demonstration am Samstag anschließen?

Nein. Ich sehe die Gefahr, daß sich unter die vielen engagierten Demonstranten auch einige militante mischen, denen nicht an der Reform des Weltwirtschaftssystems gelegen ist, sondern an dessen Abschaffung. Den Gewerkschaften geht es aber um einen kritisch-konstruktiven Dialog.

Gibt es im Blick auf das Programm und die Zusammensetzung der Teilnehmer des diesjährigen Wirtschaftsforums schon jetzt für Sie kritikwürdige Punkte?

Im Augenblick nicht, ich werde erst einmal hinfahren. Es ist schließlich das erste Mal für mich.

Die Fragen stellte Jürgen Dunsch.

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FAZ, 24.1.2003
Lula als Brückenbauer zwischen Porto Alegre und Davos
Hunderttausend Teilnehmer beim Weltsozialforum / Schuldenerlaß für arme Länder, Irak-Krieg, die Krise in Venezuela
 
oe. PORTO ALEGRE, 23. Januar. Gleichzeitig mit dem Weltwirtschaftsforum in Davos hat in der südbrasilianischen Stadt Porto Alegre das dritte Weltsozialforum begonnen. Es war vor zwei Jahren aus der gegen das Treffen in der Schweiz gerichteten Protestbewegung entstanden. In diesem Jahr werden 100 000 Teilnehmer erwartet, darunter rund 30 000 Delegierte von 5500 Nichtregierungsorganisationen, Sozial- und Protestbewegungen, Gewerkschaften, Umweltschutzverbänden und Vereinigungen von Minderheiten. Obwohl Vertreter von Regierungen und Parteien nicht als offizielle Teilnehmer, sondern nur als Gäste oder Mitglieder beteiligter Organisationen zugelassen sind, wird an diesem Freitag abend Brasiliens neuer Präsident Luis Inácio Lula da Silva zu den Besuchern sprechen. Bei ihm machten die Organisatoren eine Ausnahme, da er und seine Arbeiterpartei (PT) zu den entscheidenden Förderern des Weltsozialforums zählten.

Lula wird von Porto Alegre direkt nach Davos fliegen. Luis Furlan, der neue brasilianische Minister für Entwicklung, Wirtschaft und Handel, der zuvor als Industrieller neunmal am Weltwirtschaftsforum teilgenommen hatte und nun als Vertreter einer linken Regierung nach Davos fliegt, bezeichnete Lula als die geeignete Persönlichkeit, der es gelingen könne, beide Foren einander anzunähern. Damit versuchte Furlan die Kritik aus Kreisen der brasilianischen Linken an Lulas Reise nach Davos zu zerstreuen. Außenminister Celso Amorim, Finanzminister Antônio Palocci und Kulturminister Gilberto Gil werden neben anderen Kabinettsmitgliedern Lula auf der ersten Europareise nach seinem Amtsantritt begleiten. Von Davos aus fliegt Lula weiter nach Berlin, wo er am Montag von Bundespräsident Rau und Bundeskanzler Schröder empfangen wird, anschließend macht er Station in Paris.

Venezuelas Präsident Chávez, den die Opposition in seinem Land mit einem Generalstreik aus dem Amt zu drängen versucht, wird möglicherweise am Sonntag in nichtoffizieller Mission an einem "bolivarischen Solidaritätsseminar" in Porto Alegre teilnehmen. Sowohl brasilianische Diplomaten als auch die Organisatoren des Weltsozialforums zeigten sich davon überrascht. Es wird jedoch nicht befürchtet, daß sich die erbitterte Auseinandersetzung zwischen dem Präsidenten und seinen Gegnern auf das Forum verlagert. Chávez dürfte in Porto Alegre nahezu ausschließlich auf Anhänger seiner "Revolution" stoßen. In Venezuela demonstrierten am Donnerstag Zehntausende für ihn.

Ein Schwerpunktthema gibt es beim Weltsozialforum nicht, das Motto der vergangenen Jahre, "Eine andere Welt ist möglich", hat weiterhin Gültigkeit. Auch diesmal wird es wieder um den Schuldenerlaß für ärmere Länder gehen. Vor dem Hintergrund des drohenden Irak-Krieges und den Auseinandersetzungen mit Nordkorea tritt die Förderung des Friedens in den Mittelpunkt. Um das unübersehbare Angebot an Vorträgen, Diskussionen und Seminaren mit ihren Analysen und Visionen des Weltgeschehens zu strukturieren, wurden fünf "Themenachsen" vorgegeben, an denen sich die Beiträge über Menschenrechte, Medien, militärische und politische Macht oder nachhaltige Entwicklung der Demokratie ausrichten sollen. Das Weltsozialforum ist dabei, sich aus der einstigen Protesthaltung zu befreien und mit konstruktiven Beiträgen zur Lösung von Konflikten und zur Entwicklung einer stärker sozial geprägten Politik und Wirtschaft beizutragen. Ziel des Forums ist eine Welt ohne Gewalt, militärische oder bewaffnete Organisationen dürfen daher nicht teilnehmen. Trotzdem war es 2002 möglich, daß ein Vertreter der kolumbianischen Guerrillagruppe Farc die Anschauungen seiner Rebellenorganisation verbreiten konnte.

Die Stadt Porto Alegre gerät mit der Ausrichtung des Forums, bei dem im ersten Jahr nur 20 000 Besucher gezählt worden waren, an die Grenzen ihrer Aufnahmekapazität. Die meisten Teilnehmer kommen in diesem Jahr aus Brasilien und den Vereinigten Staaten. Deutschland rangiert eher am unteren Ende mit etwa 200 Delegierten. Das Organisationsgremium beschloß noch vor Beginn der Veranstaltungen die Verlegung des Weltsozialforums 2004 in die indische Hauptstadt Neu-Delhi, um den Teilnehmern aus Asien und Afrika, die bislang unterrepräsentiert sind, die Anreise zu erleichtern. Im Bundesstaat Rio Grande do Sul, dessen Hauptstadt Porto Alegre ist, findet das Forum nicht mehr den politischen Rückhalt wie zuvor, da die Arbeiterpartei den Gouverneursposten verloren hat. Der neue Gouverneur Germano Rigotto hatte nach seinem Amtsantritt den Zuschuß zunächst gekürzt, später aber eingesehen, daß das Forum für die Region von großem wirtschaftlichem Nutzen ist.

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FAZ, 27.1.2003
Mit Vertrauensvorschuss
Lula in Porto Alegre, Davos und Berlin

von Josef Oehrlein
 
PORTO ALEGRE, 26. Januar. Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat am Wochenende beim Weltsozialforum in Porto Alegre und beim Weltwirtschaftsforum in Davos die reichen Länder zu mehr Hilfe für die Dritte Welt aufgerufen. "Ich möchte der Welt sagen, wie wunderschön diese Welt wäre, wenn nicht soviel Geld für Waffen ausgegeben würde und statt dessen Brot, Bohnen und Reis gekauft würden, um den Hunger auszumerzen", sagte er vor Zehntausenden jubelnden Teilnehmern des Weltsozialforums. In Davos wiederholte Lula, es müsse das Ziel aller sein, daß jeder Mensch drei Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen könne. Er forderte die westlichen Regierungen auf, einen Fonds zum Kampf gegen Armut zu schaffen. Lula hatte es sich zur Aufgabe gemacht, zwischen beiden Veranstaltungen zu vermitteln. Beim Weltsozialforum, das vor zwei Jahren aus der gegen Davos gerichteten Protestbewegung entstanden war, hatte Lula seine Anhängerschaft allerdings erst von der Notwendigkeit der Davos-Reise überzeugen müssen.

An seinen Aufenthalt in Davos schließt Lula "Arbeitsbesuche" in Berlin und Paris an. In Berlin wird er an diesem Montag von Bundespräsident Rau empfangen, am Abend gibt Bundeskanzler Schröder dem Gast zu Ehren ein Essen. Auf seiner ersten Europa-Reise wolle Lula "neue Räume öffnen", kommentierte der Präsident der Arbeiterpartei, José Genoino, in Porto Alegre gegenüber dieser Zeitung die Reise des Präsidenten. Das sei gegen niemanden gerichtet, auch nicht gegen die Vereinigten Staaten, bekräftigte Genoino. Lula hatte schon kurz nach seinem Amtsantritt den amerikanischen Präsidenten Bush besucht. Rau kennt der einstige brasilianische Gewerkschaftsführer Lula gut von früheren Begegnungen, auch Schröder hat er schon getroffen. Unverkennbar ist Lulas Bestreben, Europa größere Bedeutung im außenpolitischen Beziehungsgeflecht Brasiliens einzuräumen. Bei einer möglichen Intensivierung der Verbindungen zwischen dem Mercosur-Staatenbündnis, das die Regierung Lula neu beleben will, und der EU könnte Brasilien und Deutschland jeweils eine Art Brückenkopffunktion zukommen.

Noch ist allerdings nicht zu erkennen, welche Richtung die Wirtschaftspolitik Brasiliens nehmen wird. Überraschend hat die Zentralbank Ende vergangener Woche den Leitzins um 0,5 Prozent erhöht. Damit zeigte sie sich zwar entschlossen, die Inflation zu bekämpfen, doch mit der Fortsetzung der Hochzinspolitik von Lulas Vorgänger Cardoso wird weiterhin die Produktion der heimischen Wirtschaft stranguliert.

Der Vertrauensvorschuß, den der brasilianische Präsident sowohl in Wirtschafts- und Finanzkreisen wie bei seiner auf Sozialreformen harrenden Anhängerschaft genießt, ist allerdings noch lange nicht aufgebraucht. In den Reden Lulas fällt aber auf, daß er seine Gefolgschaft immer wieder nachdrücklich um Geduld bittet. Er befürchtet offenbar schon jetzt, seine Wahlkampfversprechen nicht einhalten zu können. Bei der Bekämpfung des Hungers in Brasilien, seinem Hauptanliegen, und der Verbesserung der sozialen Situation der verelendeten Teile der Bevölkerung greift Lula zu populistischen Methoden. So will er etwa das Militär für die Verteilung von Lebensmitteln, den Straßenbau und die Alphabetisierung einspannen. Möglicherweise ist das auch als eine Art Gegenleistung des Militärs für das Entgegenkommen Lulas in der Rentenreform gedacht. Entgegen ursprünglichen Plänen sollen den Angehörigen der Streitkräfte bestimmte Privilegien erhalten bleiben, durch die sich ihr Ruhegeld kräftig erhöht.

Noch weniger als in der Wirtschaftspolitik läßt sich ausmachen, welchen Kurs die neue brasilianische Regierung in der Außenpolitik einschlagen wird. Immer wieder kommt es zu Reibereien zwischen dem außenpolitischen Berater Lulas, Marco Aurelio Garcia, und dem Hausherrn im Itamaraty- Palast in Brasilia, Außenminister Celso Amorim. Lula scheint seinem Ratgeber Garcia mehr zu trauen als dem erfahrenen Diplomaten Amorim. Besonders deutlich werden die Differenzen im Verhältnis zu Venezuela. Dem Einfluß Garcias ist es offenbar zuzuschreiben, daß der venezolanische Präsident Chávez, über den sich Lula kurz vor seinem Amtsantritt noch distanziert geäußert hatte, inzwischen der Sympathien des brasilianischen Präsidenten sicher sein kann. Die vorgeblich neutrale Position von Außenminister Amorim im "Kreis befreundeter Länder", der auf brasilianische Initiative im innervenezolanischen Konflikt zwischen Regierung und Opposition vermitteln soll, wird durch Lulas parteiische Haltung Chávez gegenüber unterminiert.

Befürchtungen, es könnte sich doch so etwas wie eine von Kuba über Venezuela nach Brasilien reichende politische Achse herausbilden, haben während der Amtseinführung Lulas durch den langen Aufenthalt Fidel Castros in Brasília Auftrieb erhalten. Den Einsatz des Militärs für zivile Aufgaben scheint Lula von Chávez und Castro zu kopieren.

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FAZ, 29.1.2003
Selbstgerechtigkeit in Porto Alegre
Das Weltsozialforum braucht frische Ideen / Viele Besucher, wenige Ergebnisse

von Josef Oehrlein
 
PORTO ALEGRE, 28. Januar. Es war eine richtige Entscheidung des internationalen Organisationskomitees, das Weltsozialforum im nächsten Jahr aus der südbrasilianischen Stadt Porto Alegre auf einen anderen Kontinent zu verlegen. In Neu-Delhi sollen dann vor allem Teilnehmer aus Asien und Afrika einen mit geringerem Reiseaufwand verbundenen, damit auch weniger kostspieligen Zugang zu den Vorträgen und Debatten erhalten. Das einstige Forum der Globalisierungsgegner ist längst dabei, sich selbst zu globalisieren. Es sucht eine stärkere Verankerung in allen Weltteilen und eine intensivere Verbreitung des eigenen Ideen- Netzwerks.

Der Name Porto Alegre ist für das Weltsozialforum inzwischen zu einem festen Markenzeichen geworden, wie Davos für das Weltwirtschaftsforum. Die Stadt im Bundesstaat Rio Grande do Sul hat inzwischen ihre Kapazitätsgrenzen erreicht. Waren im ersten Jahr, 2001, nur 20 000 Besucher gekommen, sind es diesmal, bei der dritten Auflage des Forums, rund 100 000 gewesen. Das Weltsozialforum droht an seinem eigenen Erfolg zu ersticken. Viel bedeutsamer als das organisatorische Problem, das der Massenandrang mit sich bringt, ist die Unmöglichkeit, das für den einzelnen Besucher nicht mehr zu durchschauende Dickicht an Vorträgen, Seminaren und Diskussionsveranstaltungen zu Themen wie Krieg und Frieden, Familienleben und Prostitution, Armut und Reichtum, Freiheit und Sklaventum noch sinnvoll zu strukturieren.

Das Weltsozialforum, das als Gegenbewegung zu Davos entstanden ist, hat seine einstige aggressive Protesthaltung inzwischen praktisch vollkommen abgestreift. Doch hat das Treffen bislang jedoch nicht zu einer konstruktiven Rolle als Ideengeber und als "Brutkasten" für Alternativen zu den herkömmlichen Formen politischer und wirtschaftlicher Machtausübung gefunden. Das liegt vor allem daran, daß es im linken Geist Gleichgesinnte vereint, die sich in erster Linie in ihrer Haltung bestätigt sehen wollen. Kaum ein Redner oder Diskussionsteilnehmer versäumte es, das Glaubensbekenntnis von Porto Alegre nachzubeten: "Der Neoliberalismus ist an allen sozialen Ungerechtigkeiten schuld; die Vereinigten Staaten wollen den Krieg gegen den Irak nur wegen des Erdöls und wegen anderer wirtschaftlicher Interessen; die Freihandelszone Alca zerstört die Wirtschaft der lateinamerikanischen Länder; die Demokratie hat auf breiter Front versagt."

Der Versuch, Lösungsvorschläge für aktuelle Konflikte zu unterbreiten, geriet in Porto Alegre bestenfalls zu Sandkastenspielen, die allerdings bisweilen von eindrucksvoller Symbolkraft waren. So "unterzeichneten" israelische und palästinensische Pazifisten einen "Friedensvertrag", dessen Text von den Teilnehmern eines Diskussionsforums erarbeitet worden war.

Daß ausgerechnet Brasilien zum Initiator und Gastgeber des Weltsozialforums geworden ist, hat einen seiner Gründe darin, daß sich in dem Land seit seiner Rückkehr zur Demokratie nach einer langen Militärdiktatur ein besonders fruchtbares Klima der Freiheit und Toleranz breitgemacht hatte. Diese weltoffene Atmosphäre gerät paradoxerweise unter der Amtsführung des Sozialisten Lula da Silva, eines der frühen Förderer des Forums, wieder in Gefahr: In Lulas Regierung sind immer häufiger linksnationalistische Töne zu vernehmen. Der Präsident der regierenden Arbeiterpartei (PT), José Genoino, zeigte sich auf dem Forum immerhin bewußt, daß mit den altlinken Parolen kein Staat mehr zu machen ist. Mit dieser Erkenntnis hat der PT-Kandidat Lula die Wahlen zwar gewonnen, es herrscht in der Partei aber noch immer keine Klarheit darüber, wie und in welche Richtung sie sich entwickeln soll. Derzeit wird sie zwischen der sozialdemokratisch-gemäßigten Position, wie sie im Wahlkampf im Vordergrund stand, und radikalen Forderungen aus der linken Ecke hin- und hergerissen.

Unter einer ähnlichen Orientierungslosigkeit leidet auch das Weltsozialforum. Es benötigt die Zufuhr neuer Ideen, will es nicht an der eigenen Selbstgerechtigkeit ersticken. Der Andrang behindert eher den Meinungsaustausch, als daß er ihn befördert. Die "demokratische" Grundidee des Weltsozialforums, jeden, der zu Wort kommen will, auch zu Wort kommen zu lassen, ist nicht mehr zu verwirklichen. Der Wechsel in eine andere Weltregion könnte die notwendigen Veränderungen in Gang bringen. Spätestens wenn das Forum in zwei Jahren, wie geplant, nach Porto Alegre zurückkehrt, müßte es sich auch der Diskussion mit vermeintlichen oder wirklichen Gegnern öffnen. Bislang liefen in Porto Alegre Referenten - abgesehen von den Teilnehmern einer bewußt "kontrovers" angelegten Morgendiskussion, die jedoch eher Alibicharakter trug - mit einer vom linken Credo abweichenden Meinung Gefahr, vom Publikum ausgegrenzt oder gar angegriffen zu werden.

Das Vorhaben des brasilianischen Präsidenten Lula, die Veranstaltungen in Davos und Porto Alegre einander anzunähern, bietet einen Ausweg. Obwohl das Mißtrauen der jeweils anderen Seite gegenüber nach wie vor groß ist, hat die wohlwollende bis enthusiastische Resonanz auf den Auftritt Lulas in Davos gezeigt, daß ein direkter Austausch der Argumente sehr wohl möglich ist. Der von seinem Naturell her auf Ausgleich bedachte Lula wäre die geeignete Figur, um gerade dann zu vermitteln, wenn die Gegensätze schließlich doch unüberbrückbar erscheinen sollten. Lula hatte, bevor er nach Davos aufbrach, in Porto Alegre gezeigt, daß er selbst seine Anhängerschaft auf dem radikalen linken Flügel im Zaum zu halten vermag. Deren Kritik an seiner Davos- Reise wurde immer schwächer und verstummte schließlich ganz. In den Kreisen der Davos-Besucher beginnt sich unterdessen auch ohne das Weltsozialforum die Erkenntnis Bahn zu brechen, daß in Schwellenländern eine rein an wirtschaftlichen Fakten und Zielen orientierte Politik ohne eine angemessene Berücksichtigung sozialer Belange nicht mehr durchzusetzen ist.

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