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Jungle World

  • Jungle World, 23.1.2003
    Farewell, Porto Alegre!
    Auch in Lateinamerika wird das Weltsozialforum in Frage gestellt. Denn es richtet sich gegen den Neoliberalismus und nicht gegen den Kapitalismus. Emanzipatorische Positionen finden hier keinen Rückhalt.
  • Jungle World, 30.1.2003
    Der Planet der Weltbürger
    Eine andere Welt ist möglich, diese hier ist bunt, laut und unübersichtlich. Eine Reportage vom Weltsozialforum in Porto Alegre.
  • Jungle World, 30.1.2003
    Heilige Vielfalt
    Radikalität und Realpolitik

 

Jungle World, 23.1.2003
Farewell, Porto Alegre!
Auch in Lateinamerika wird das Weltsozialforum in Frage gestellt. Denn es richtet sich gegen den Neoliberalismus und nicht gegen den Kapitalismus. Emanzipatorische Positionen finden hier keinen Rückhalt.

von Andrés Pérez González, Santiago De Chile

Eine andere Welt ist möglich«, proklamiert Attac, die wichtige Trägerorganisation des Weltsozialforums (WSF), das zum dritten Mal in Folge in der brasilianischen Stadt Porto Alegre abgehalten wird. Aber welche Welt ist möglich? »Eine sozialistische Welt ist möglich«, kann man in einer Erklärung des Partido Socialista de los Trabajadores Unificado (PSTU), einer brasilianischen Partei mit trotzkistischem Einschlag, lesen.

Das WSF entstand als eine Antwort auf das Weltwirtschaftsforum in Davos, das seit mehr als 30 Jahren stattfindet und die ausgewählte Elite des weltweiten Neoliberalismus vereint, unter anderem Präsidenten, Staats- und Regierungschefs, Bürokraten internationaler Finanzinstitutionen, Manager transnationaler Unternehmen.

Das WSF nimmt seiner Charta der Prinzipien zufolge keine andere Position ein, als nach Alternativen zur neoliberalen Globalisierung zu suchen; es versteht sich als Raum für Debatten und Treffen. Die Kritiker des Treffens, zu denen ich mich zähle, bezichtigen die Beteiligten eines reformistischen Geistes, der sich für einen »neuen, humaneren und solidarischeren Kapitalismus« einsetzt.

Ein Mitglied von Attac-Chile antwortete auf meine Frage, warum es unbedingt einer der 30 000 Delegierten aus rund 5 000 Gruppen aus 121 Staaten sein wolle, auf dem Diskussionsforum seiner Website: »Wir gehen nach Porto Alegre, weil der Kampf auf der Straße und auch in den Foren stattfindet. Ohne Theorie keine Aktion … Wir gehen dorthin, um uns mit hunderttausenden Bürgern der ganzen Welt zu vereinen, die an eine bessere Welt glauben, die von einfachen, notwendigen Protesten dazu übergehen wollen, Alternativen vorzuschlagen. Wir werden dorthin gehen, um global zu denken und lokal zu handeln.«

Verschiedene lokale oder regionale Foren sind dem Treffen vom 23. bis 28. Januar vorangegangen. Allein im letzten Jahr wurden das Argentinische Forum (Buenos Aires, August), das Europäische Forum (Florenz, November) und das Afrikanische Forum (Äthiopien, Dezember) organisiert. Und für dieses Jahr sind das Asiatische Forum (Indien, Anfang dieses Monats), das Panamerikanische Forum (Ecuador, Oktober) und das Mittelmeer-Forum (Spanien, November) geplant.

Aber was steckt hinter diesem WSF und seinen Abkömmlingen, die von seinen Kritikern als »Agenten des Kapitalismus« betrachtet werden?

»Es ist das Produkt politischer, gesellschaftlicher und institutioneller Kräfte der ganzen Welt, das auf einer Klassenallianz gründet, die auch als fortschrittlich betrachtete kapitalistische Unternehmer einschließt«, sagt die Federación Anarquista Gaucha (FAG) aus dem brasilianischen Bundesstaat Rio Grande del Sul, in dem auch Porto Alegre liegt. Im Übrigen sei es kein Zufall, dass das WSF in der Stadt und in dem Staat Brasiliens stattfindet, in dem traditionell der Partido de los Trabajadores (PT) des gegenwärtigen Präsidenten Luiz Inacio »Lula« da Silva regiert.

Das Ziel der Organisatoren ist es den brasilianischen Anarchisten zufolge, einen politischen Kampf mit konstruktiven Vorschlägen gegen den Neoliberalismus in Gang zu setzen, was als Versuch betrachtet werden kann, die wachsende globalisierungskritische Bewegung zu »domestizieren« und zu »kooptieren«. Hingegen hat das WSF, folgt man dem Urteil eines baskischen Unabhängigkeitsaktivisten, der im letzten Jahr daran teilnahm, erfolgreich »mit seiner Ablehnung der Sozialdemokratie einen weltweiten Bezugspunkt geschaffen und einen Wiedererkennungsgrad erreicht, von dem traditionelle Parteien nur träumen können«.

Neuerdings kritisiert die FAG, dass »die Ideologen des WSF sich bemühen, diese monströse Klassenallianz auf globaler Ebene mit dem strategischen Ziel durchzusetzen, ein Projekt weltweiter sozialdemokratischer Hegemonie als effektive Alternative mit dem Zweck der Verwaltung des Systems durch eine neue administrative Rationalität zu fördern«.

Und die FAG scheint Recht zu haben, betrachtet man die zentralen Forderungen der Organisatoren auf wirtschaftlicher Ebene. Es geht um die Kontrolle über die Finanzkapitalien, mit denen gegen die Ökonomien der Länder der Peripherie spekuliert wird (Tobin-Steuer von Attac); um die Etablierung von Normen für einen gerechten und gleichen Handel, der sich gegen den Freihandelsvertrag mit den USA und die amerikanische Freihandelszone Alca wendet; um eine Politik, die das nationale produktive Kapital, die kleinen und mittleren Unternehmer begünstigt.

Auf politischer Ebene tritt das WSF für die Wiedererlangung der Souveränität des Nationalstaats ein, ausgehend von der erneuten Etablierung des Gleichgewichts zwischen den formalen, institutionellen Gewalten und den konsultativen Mechanismen gegenüber der Bevölkerung (partizipative Demokratie).

Letztlich scheint die Revolution außerhalb des Horizontes der am WSF Beteiligten zu liegen. Ihr Antineoliberalismus kann nicht einmal als »Antikapitalismus« bezeichnet werden. Ein Beispiel: Attac-Chile bezeichnet die Machtergreifung des ehemaligen Arbeiters und Gewerkschaftsführers Lula in Brasilien als »transzendierende Tatsache« und als »neue Erfahrung«.

Der ulkige »Wille zur Einheit in der Vielfalt«, der von den WSF-Organisatoren bekundet wird, stößt unvermutet auf die Verherrlichung der »Bürger« oder der »Zivilgesellschaft«, wo sich ohne größere Komplikationen ein weites Spektrum von Nichtregierungsorganisationen und Politikern fortschrittlicher Regierungen entfaltet.

Im 21. Jahrhundert ist das bestimmende Merkmal des »Bürgers« jedoch seine Teilnahme am Konsum, nicht seine Zugehörigkeit zu einer Stadt. Und so kommt es, dass die Ausgegrenzten nicht auf diesem Forum anwesend sein werden (wegen der Reise- und Aufenthaltskosten), sondern allein die »Gurus« oder Repräsentanten, die im Namen ihrer Bevölkerungen sprechen.

So bevorzugt man es auf dem WSF auch, keine Themen zur Frage der Regierbarkeit zu behandeln. Eine der Konferenzteilnehmerinnen beispielsweise wird die Vorsitzende der KP Chiles sein, Gladys Marin. Sie beteiligt sich an dem Forum: »Die große Wirtschafts- und Finanzkrise: Worin besteht sie? Welche Alternativen gibt es zu ihr?« An dem Forum über »die Unterschiede und Spannungen zwischen sozialen Bewegungen, politischen Parteien und politischen Institutionen: Wie unter diesen Bedingungen kämpfen, um eine partizipative Demokratie zu erreichen?«, werden die Außenministerin Kanadas, Louise Beaudoin, und der glänzende brasilianische Parlamentarier und PT-Vorsitzende José Genoíno teilnehmen.

Das spanische Gegeninformationskollektiv La Haine hat eine Einladung zur Teilnahme an einem der Foren abgelehnt und sie so begründet: »Wir sind ein Planet von Schafen, die von einem Rudel Wölfe behütet werden, für die wir nicht mehr sind als das Mittel zur Befriedigung eines immer währenden Hungers. Das WSF erweckt den Eindruck, als sei es möglich, diese Realität so zu ändern, dass daraus eine kooperative Beziehung zwischen Gleichen wird, was der Natur der Wölfe völlig entgegengesetzt ist. Wir behaupten, dass die Natur der Wölfe so ist, wie sie ist, dass sie nun mal Fleischfresser sind und dass sie deshalb nicht damit aufhören werden, sich von uns zu ernähren, solange sie existieren. Wir können deshalb nicht an diesen Foren teilnehmen, weil sie – bewusst oder unbewusst – an der Aufrechterhaltung der Unterdrückung im Austausch für ein wenig Teilhabe am neokapitalistischen Besäufnis mitarbeiten.«

Angesichts des »Antiglobalisierungsdiskurses« und der Dringlichkeit »kreativer« politischer und kultureller Aktionen scheinen die gesellschaftlichen Bewegungen in Argentinien, die sich mit Autonomie und Radikalität entwickeln, dem WSF ein wenig Verstand zu liefern. So erklärt Osvaldo Cogiola vom trotzkistischen Partido Obrero aus Argentinien, der an den früheren Treffen teilnahm: »Die Krise der Menschheit stellt dringender denn je die Frage nach der Macht und dem Übergang zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und ohne Staat im Anschluss an die Eroberung der Macht durch die Arbeiter (…). Jetzt ist nicht die Stunde der 'Antiglobalisierung', sondern die Stunde der systematischen Vorbereitung, sei sie politisch, kulturell, organisatorisch, kämpferisch, auf die sozialistische Revolution.«

Aber der emanzipatorische Kampf erfordert keine ausgebauten Wege und rigiden politischen Programme. »Das christliche Abendland hat uns daran gewöhnt, bei der Suche nach Antworten in rationalen Figuren alles zu zerreden, bevor wir einen Schritt tun«, so drückt es ein bekannter ehemaliger Aktivist des mittlerweile aufgelösten Movimiento de Izquierda Revolucionaria (Mir) aus; der Mir verfolgte vor einigen Jahrzehnten in Chile die guevaristische Linie.

Die allermeisten Gruppen, die sich am WSF beteiligen, agierten politisch »wie ein Architekt vor dem Bau eines Hauses. Und wenn sie nicht klar sehen, bewegen sie sich nicht und vergessen, dass keine Wege existieren, sondern dass sie durchs Gehen entstehen, in Jahrhunderten des Kampfes gegen die Unterdrückung, aus einem Kampf der Bevölkerungen gegen die Macht und nicht aus einem ideologischen Kampf«, fügt er hinzu.

Der argentinische Historiker, Journalist und Schrifststeller Osvaldo Bayer schrieb: »Alle Freiheit, die die Menschheit jemals errungen hat, ist durch Kampf errungen worden.« Und dieser Kampf bedeutete Bakunin zufolge immer eine »Taufe in Blut«.

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Jungle World, 30.1.2003
Der Planet der Weltbürger

Porto Allegre - Eine andere Welt ist möglich, diese hier ist bunt, laut und unübersichtlich. Eine Reportage vom Weltsozialforum in Porto Alegre.

(von Wolf-Dieter Vogel)

Summer in the City, Bühnen an jeder Ecke, unzählige Menschen, die sich durch die Straßen schieben, Musik, Party, viel Krach. Hunderte von Zelten säumen das Stück Grünfläche eines Jugendcamps zwischen dem Stadtzentrum und dem Fluss Guaíba, argentinische Punks schlurfen von hier nach dort, an der nächsten Ecke laufen sich ein paar schwarze HipHopper warm, zwei Jugendliche machen Capoeira. Im Hintergrund ist die Stimme des brasilianischen Musikers Jorge Ben Jor zu hören, der im nahe gelegenen Anfiteatro Por-do-Sol vor 50.000 Jugendlichen ein Konzert gibt.

Ein Zelt weiter diskutieren die Letzten noch über Landreformen in Brasilien, vielleicht auch über Alternativen zur existierenden Weltwirtschaft oder über Menschenrechtsverletzungen in Mexiko. Männer im mittleren Alter bieten Zeitschriften feil, die sich Opinion Socialista oder Vanguardia Obrero nennen. An einer Holzwand zeigt ein kleines Plakat einen blutenden Rinderkopf: »No to the murder of animals!« Daneben, zwischen zwei Palmen, fordert ein rotes Transparent: »Viva la revolución!« Im Kinozelt, das rund 1 300 Zuschauern Platz bietet, läuft »Um otro mundo é possível« – eine andere Welt ist möglich. Und die will man hier im südbrasilianischen Porto Alegre auf dem 3. Weltsozialforum (WSF) schon mal vorleben.

Eine Amtssprache gibt es auf dem »Planeten der Weltbürger« nicht. Und auch kein übersichtliches Programm. Wer also den Weg zum WSF finden will, muss sich durchschlagen: mal auf Englisch, mal auf Spanisch, mal auf Portugiesisch, mal auf Französisch. Die Terraviva – »the independent daily of the World Social Forum III« – schreibt gleich in drei Sprachen, je nach Gusto des jeweiligen Autors.

Wer aber versucht, aus den rund 1 700 Konferenzen, Seminaren, Workshops, Panels, Partys und Konzerten die interessantesten herauszufiltern, ist hoffnungslos verloren. Am Tag nach dem offiziellen Beginn des Spektakels taucht ein Programm auf, angekündigt werden dort vor allem die Veranstaltungen, die für die »Großen« von Bedeutung sind: für den Internationalen Rat des WSF, eine Ansammlung der maßgeblichen Nichtregierungsorganisationen (NGO) aus aller Welt. Dieses 130köpfige Gremium entscheidet über die grundsätzliche Ausrichtung des Sozialforums.

Damit sind natürlich auch Zeichen für die Außenwirkung des Treffens gesetzt. Im Rampenlicht stehen die »Stars« der Bewegung: etwa Lucío Inació Lula da Silva, der neue brasilianische Präsident, oder die Attac-Aktivistin Susan George. Ihr französischer Kollege Bernard Cassen referiert vor großem Publikum über »Globalisierung, Information und Kommunikation«, und der US-amerikanische Medienexperte Noam Chomsky erklärt, wie man am besten »dem Imperium« entgegentritt.

Kritiker der Welthandelsorganisation (WTO) wie Martin Khor vom Federal Network aus Malaysia fordern eine Demokratisierung des Gremiums. Für das nächste WTO-Treffen, das im September im mexikanischen Cancun stattfinden wird, kündigt Walden Bello vom thailändischen Focus on the Global South schon mal Mobilisierungen an. Schließlich würden die dort zur Debatte stehenden Vereinbarungen, so das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (Gats), der WTO eine weitere Ausdehnung ihrer Macht bringen.

Weniger greifbar als Chomsky, Bello oder George sind die unzähligen Vernetzungstreffen verschiedener Basisorganisationen. Außenstehende haben in den ersten Tagen kaum eine Chance, sich einen Überblick zu verschaffen: Ein umfassendes Programm der rund 1 000 Workshops erscheint erst am dritten Tag des WSF.

Dabei hat man sich in Porto Alegre bestens auf das dritte Treffen der Globalisierungskritiker aus aller Welt vorbereitet. Schon am Flughafen versorgen Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung die 30 000 internationalen Gäste mit den wesentlichen Informationen, eine eigens eingerichtete Buslinie sorgt für die Verbindung zwischen den Veranstaltungsorten: von der katholischen Universität PUC zum Jugendcamp, vom »Anfiteatro Por-do-Sol« (»Sonnenuntergang«) zum Stadion Gigantinho, dem größten Schauplatz des Spektakels.

Lula kommt

»Porto Alegre umarmt die Welt«, lässt die örtliche Tourismusverwaltung wissen und bietet Rundfahrten zu den einschlägigen Projekten der »partizipativen Bürgerbeteiligung« an. Schließlich hat sich die brasilianische Arbeiterpartei PT mit diesem Modell der Mitbestimmung in Haushaltsfragen hier im reichen Bundesstaat Rio Grande do Sul einen guten Namen gemacht. Und es hat einen kleinen Teil dazu beigetragen, dass der PT-Politiker Lula nun die Regierungsgeschäfte in Brasilien führt.

Seit knapp vier Wochen ist Lula nun im Amt, und bislang hält man in Porto Alegre noch große Stücke auf den ehemaligen Gewerkschafter. So wird sein Auftritt am zweiten Tag des WSF zu einem der Höhepunkte. »Lula kommt«, ist ein Programmpunkt, der sich überall herumspricht. Also sind die Zufahrtsstraßen zum »Sonnenuntergang« schon vor dem Auftritt des Staatschefs komplett verstopft. Rund 80 000 Menschen, etwa so viele, wie am Tag zuvor an der Eröffnungsdemonstration teilgenommen haben, tummeln sich auf der Wiese.

Gerüchte kursieren, nach denen einige planen, Lula mit Eiern zu bewerfen. Denn dass der Politiker beschlossen hat, zum Weltwirtschaftsforum nach Davos zu fahren, nehmen ihm ziemlich viele übel. Schließlich habe man erfolgreich gezeigt, »dass die lebenswichtigen Themen für die Welt derzeit in Porto Alegre, nicht in Davos diskutiert werden«, erklärt der brasilianische Ökonom und WSF-Mitorganisator Emir Sader. Diesen »Sieg über Davos« dürfe man jetzt nicht verspielen, indem man das Treffen der anderen Seite anerkenne.

»Fica, Fica« – bleib hier, bleib hier – empfangen denn auch einige Sprechchöre den Präsidenten, als er auf die Bühne tritt. Doch nach den ersten Worten legt sich die Aufregung. »Ich werde nach Davos reisen, um zu zeigen, dass eine andere Welt möglich ist«, erklärt Lula. Und: »Davos hört genau auf Porto Alegre.« Die letzten Buhrufe verstummen, und nach einigen Worten über die notwendige internationale Stärkung sozialistischer Politik und sein Umverteilungsprogramm »Hambre Cero« (»Null Hunger«) ist man vor dem Anfiteatro wieder zufrieden. Zahlreiche rote Fahnen des PT werden bei den letzten Sätzen des Präsidenten geschwenkt.

Um 20.50 Uhr steigt Lula ins Flugzeug in Richtung Schweiz.

Er gehe weder als Gewerkschafter noch als Vertreter des WSF, »sondern als Präsident von 160 Millionen Brasilianern« zum Weltwirtschaftsforum, erklärte Lula zuvor rund 100 Repräsentanten des Internationalen Rates, mit denen er sich im Sheraton-Hotel zum Plausch traf. Insbesondere die Stärkung des Mercosur stehe für ihn auf dem Programm. Der Handelspakt, der Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay verbindet, liegt seit Jahren de facto auf Eis.

Um den heimischen Markt zu stärken, will Lula das Projekt wieder beleben. Schließlich sei die unter der Führung der US-Regierung geplante gesamtamerikanische Freihandelszone Alca »kein Mittel der Integration«. Ernsthafte Verhandlungen seien »nur unter gleichberechtigten Partnern möglich«.

MST und Piqueteros

Dass er bereit ist, über die umstrittene Alca zu verhandeln, kommt bei vielen linken Organisationen schlecht an. In zahlreichen Workshops spielt das Freihandelsabkommen eine große Rolle, und über ein kompromissloses »no al alca« ist man sich so gut wie einig.

Trotz solcher Ungereimtheiten steht für João Pedro Stédile, den Sprecher der brasilianischen Landlosenbewegung MST, außer Zweifel: »Nur weil die Partei, die wir unterstützen, jetzt regiert, werden wir nicht die Hände in den Schoß legen.« Unter großem Beifall erklärt Stédile auf einer Konferenz im Gigantinho die Notwendigkeit einer umfassenden Landreform. Und die werde man nicht gegen, sondern mit Lula erkämpfen.

Der MST zählt zu den wenigen radikalen Organisationen, die auch auf den großen Bühnen ihren Platz finden. Umso mehr finden die Diskussionen über die internationale Vernetzung und Koordination von Basiskämpfen in den über 1 000 Workshops statt. Etwa im überfüllten Raum 122 im Gebäude 15 der katholischen Universität PUC. Dort debattieren Vertreter des MST, der argentinischen Piqueteros und venezolanische Gewerkschafter über die Situation in Venezuela.

Man müsse sich organisieren, um angesichts der permanenten Putschversuche und Streiks einen Zusammenbruch der Regierung von Hugo Chávez zu verhindern, beschwört der venezolanische Gewerkschafter Orlando Chirino die Diskutanten. Auch er habe viel gegen Chávez vorzubringen, aber »wenn diese Opposition der Oberschicht und der Wohlhabenden gewinnt und die Verfassung außer Kraft gesetzt wird, dann hat das auch für die Zukunft Lulas eine große Bedeutung«. Derzeit gelte es, als vereinigte Linke gegen diese Opposition Front zu machen, sagt Chirino und erntet großen Beifall. »Cha-, Cha-, Chávez«, rufen die 100 Teilnehmer im Raum. Und: »Argentina, Argentina.«

No-Go-Area für Chávez

Auch Chávez hat sein Erscheinen angekündigt. Doch darüber ist man im Internationalen Rat weniger glücklich. »Wir wollen nicht, dass es zur Gewohnheit wird, dass Staatschefs und Politiker auf diesem Treffen der Zivilgesellschaft auftreten«, schimpft Ratsmitglied Roberto Savio. Auch Lula habe seine Rede lediglich in seiner Rolle als Präsident des Gastgeberlandes gehalten.

Chávez kommt trotzdem. Doch vorsorglich hat man das Gelände des WSF zur No-Go-Area für den Staatschef erklärt. Also gibt der Venezolaner sein Stelldichein für Journalisten in einem Regierungsgebäude im Stadtzentrum. Locker plaudert der Linksnationalist über all das, was man unter Globalisierungskritikern gerne hört: über den »perversen Mechanismus der Auslandsschulden«, über die »Überdosis Neoliberalismus«, unter der Argentinien zu leiden habe, und über die »Hegemonie der internationalen Finanzorganisationen«. Ganz nebenbei fallen positive Worte über die Arbeit der Attac-Gruppen.

Diese dürften nicht unbedingt scharf auf solche Avancen sein. Die Führungsebene des WSF hat zwei entscheidende Konflikte offensichtlich ausgeblendet: die Krise in Venezuela und den Krieg in Kolumbien. Auf keiner der großen Veranstaltungen spielen diese für Lateinamerika zentralen Themen eine Rolle. Bereits auf der abschließenden Pressekonferenz des Internationalen Rates, der in den Tagen vor dem WSF tagt, geht der Ratssprecher Savio kaum auf Nachfragen zum Besuch von Chávez ein.

Next Stop Indien

Für das Gremium steht die Entscheidung im Vordergrund, wo das nächste WSF stattfinden soll. Nach langen Debatten habe man sich für Indien entschlossen, sagt Savio. Im Jahr 2005 werde das Treffen wieder in Porto Alegre stattfinden. Man hat sich auf einen umstrittenen Kompromiss geeinigt. Offensichtlich will die Mehrheit des Internationalen Rates mit der angekündigten Dezentralisierung nicht Ernst machen. Dabei bestimmt der Standort Porto Alegre stark die Zusammensetzung des Sozialforums. Etwa ein Fünftel der Beteiligten stammt aus Brasilien, die überwiegende Mehrheit aus Lateinamerika, Europa oder Nordamerika. »Asiatische und afrikanische Organisationen fühlen sich deshalb benachteiligt«, berichtet Jürgen Reichel vom Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) im Goethe-Institut von den Debatten, an denen er teilgenommen hat.

Rund 150 Leute versammeln sich am Vorabend des WSF-Beginns in der kulturellen Auslandsfiliale der Deutschen, schließlich bietet sich das Institut als »Treffpunkt für alle deutschsprachigen Teilnehmer« an. Sven Giegold von der deutschen Attac-Sektion findet das ziemlich gut. Das Goethe-Institut sei »die Stütze, damit man hier gut arbeiten kann«.

Der Besuch lohnt sich. Nun weiß man wenigstens, wer sonst noch im Namen der globalisierungskritischen Bewegung aus Deutschland angereist ist: Vertreterinnen und Vertreter von Attac, des EED, des DGB, der regierungseigenen Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung, der grünen Heinrich-Böll-Stiftung sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung der PDS. Ein CDU-Unternehmer will »einen Koffer voll Hoffnung« mit nach Hause nehmen, die PDS-Vorsitzende Gabi Zimmer will wissen, »wie ihr in Porto Alegre über den partizipativen Haushalt gestritten habt«. Klaus Klinger von der Künstlergruppe Farbfieber berichtet, man habe nun im Rahmen des Projektes »Mural Global« eine Mauer an der örtlichen Universität »mit ökologischen Motiven« bemalt. »Ein Wandbild zum Thema Frieden, Krieg, Globalisierung und über alles, was dazugehört«, erklärt der Künstler.

Gaza in Brasilien

Vor dem großen Veranstaltungsraum im Gebäude 41 der Universität PUC verteilen junge Männer und Frauen Palästinensertücher. Im Saal tagt zur gleichen Zeit das Forum für Frieden in Israel und Palästina. Das Kibbutz-Mitglied Ely Ben Gal erklärt auf Fragen eines Palästinensers, dass »Besatzung und Rassismus« nicht Ursache, »sondern Konsequenzen des Konflikts« seien. Allan Jarran, der Vizepräsident der »Palästinensischen Zivilgesellschaft«, fordert ein Rückkehrrecht für alle Flüchtlinge, weil das »Flüchtlingsproblem von Israel geschaffen« worden sei. Viele Palästinenser hätten in arabischen Staaten ihr Zuhause gefunden, entgegnet Ben Gal, und wer von Besatzung rede, müsse auch vom Terror der Selbstmordkommandos sprechen.

Zwei Tage lang diskutieren israelische und palästinensische Delegierte über Wege zum Frieden im Nahen Osten. Doch nach dem Angriff der israelischen Armee auf den Gaza-Streifen am Wochenende brechen die Palästinenser den Dialog ab. Die Atmosphäre habe sich geändert, erklärt Jarran. Die Voraussetzungen, um das Forum weiterzuführen, seien nicht mehr gegeben.

Außerhalb des Saales sieht es um die Voraussetzungen ohnehin schlechter aus. Die »Arabisch-Palästinensische Gesellschaft Brasiliens« sowie kleine kommunistische Organisationen treten immer wieder mit aggressiven israelfeindlichen Parolen auf, in Flugblättern wird die »faschistische Praxis des zionistischen Staates« gegeißelt. Auf der Eröffnungsdemonstration kommen junge Männer, Fahnen schwenkend und vermummt mit Palästinatüchern, als Popstars gut an. »Sharon und Bush sind Terroristen«, skandieren sie und meinen zwei zentrale Themen der Demonstration: den Palästinakonflikt und den bevorstehenden Krieg der USA gegen den Irak.

Eine Gruppe von Frauen, die sich gegen »jeden Fundamentalismus« aussprechen, weil »der Fundamentalismus Frauen ermordet«, fällt unter all den Kämpfern »gegen Militarisierung und Krieg« kaum auf. Auch mit vereinzelten Schildern, auf denen der US-Präsident mit Hitler gleichgestellt wird, kann man hier gut leben.

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Jungle World, 30.1.2003
Heilige Vielfalt
Radikalität und Realpolitik

von Wolf-Dieter Vogel

Eines ist klar: »Wir sind die Guten.« Wir sind gegen Neoliberalismus, Militarismus und Krieg, insbesondere gegen den geplanten Krieg der US-Regierung gegen den Irak. Wenn man auf dem Weltsozialforum (WSF) über irgendwas einig ist, dann darüber. Gemeinsam wolle man einen »Keil in den Neoliberalismus treiben«, so sagt es Sven Giegold, der Sprecher von attac . Der Rest sei »Vielfalt«, und darin liege ja gerade die Stärke.

Das trifft für Giegolds Verein fraglos zu. Attac verfügt mittlerweile über Organisationen in 40 Staaten und sitzt neben weiteren 130 großen Nichtregierungsorganisationen (NGO) im Internationalen Rat des WSF. In diesem Gremium werden inhaltliche Schwerpunkte und organisatorische Grundlagen des globalisierungskritischen Spektakels festgelegt.

An der Orientierung ihrer Politik haben diese NGO nie einen Zweifel gelassen: ökologischer Keynesianismus, Steuern für internationalen Finanztransfer und Handelsregeln für transnationale Konzerne. Von einer grundlegenden Ablehnung der Warengesellschaft ist nie die Rede. Viele der am Internationalen Rat beteiligten Organisationen stehen ihren Regierungen bei internationalen Konferenzen beratend zur Seite, einige arbeiten direkt für große Konzerne.

Über die Rolle des WSF ist damit aber höchstens die Hälfte gesagt. Denn viele der knapp 5.000 Organisationen, die sich in den letzten Tagen in Porto Alegre trafen, nutzen das WSF vor allem für inhaltliche Diskussionen, die mit diesen politischen Plänen wenig zu tun haben.

Ihnen gibt das Forum den Raum, um auf internationaler Ebene den Kampf gegen das geplante gesamtamerikanische Freihandelsabkommen Alca, die Ausbeutung in Weltmarkfabriken oder die Biopiraterie zu organisieren. Ihre Hoffnung liegt in der Aufhebung der kapitalistischen Verhältnisse, und zwar auf einem Weg, der parteiförmig organisierte Strukturen zu überwinden versucht.

Doch worin besteht die Crux der ganzen Inszenierung? Nicht zufällig erinnert das kunterbunte Treiben in den Hörsälen und Zelten in Porto Alegre an grüne Parteitage zu Zeiten, in denen es noch Menschen gab, die an gesellschaftliche Veränderung mit Hilfe der Grünen glaubten. Mit der allseits beschworenen Vielfalt ließ sich auch damals trotz aller grundlegenden Widersprüche eine Gemeinsamkeit konstruieren. Welcher Aspekt, welche Tendenz dieser »Vielfalt« dann auf der politischen Bühne relevant wurde, entschieden letztlich jene, die über die Macht verfügen. Und was das WSF betrifft, so sitzen diese Leute im Internationalen Rat oder im brasilianischen Präsidentenamt.

Nicht nur Lula, der neue Staatschef Brasiliens, wird es bei seinem Besuch des Weltwirtschaftsforums in Davos zu schätzen gewusst haben, mit seinen Verbündeten vom WSF als Faustpfand auftreten zu können. Auch die rot-grüne Regierung kann nun guten Gewissens auf Porto Alegre verweisen, wenn es gilt, deutsche oder europäische Interessen durchzusetzen. Denn dort haben schließlich die parteinahen Heinrich-Böll- bzw. Friedrich-Ebert-Stiftungen mächtig mitgekämpft gegen die amerikanische Freihandelszone Alca, gegen Neoliberalismus, Militarismus und Krieg.

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