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Berichte

Zwischenbilanz: Das Weltsozialforum wird zehn!

Nicht nur Attac Deutschland, sondern auch das Weltsozialforum feiert dieses Jahr den ersten runden Geburtstag. Ein Bericht von dem fünftägigen Bilanzierungstreffen in Porto Allegre von Silke Veth.

(von Silke Veth, Referentin Internationale Politik und soziale Bewegungen der Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin)


Begrüßungsplakat

Um diese letzten zehn Jahre zu bilanzieren und Themen der Zukunft zu diskutieren, neue Netzwerke zu erfinden und bestehende weiterzuknüpfen, trafen sich von Montag, 25. Januar 2010 an fünf Tage lang in der Stadt und im Großraum Porto Alegre Aktivistinnen und Aktivisten der Weltsozialforumsbewegung. Zu sehen waren sowohl VertreterInnen der Gründungsgeneration wie auch einige tausende Jugendliche. Allerdings örtlich recht getrennt (das Jugendcamp lag zwei Stunden, nur mit einem unregelmäßig fahrenden Shuttle-Bus zu erreichen, außerhalb der Stadt), was den OrganisatorInnen in der einheimischen Presse vehemente Kritik einbrachte.  

Der Gedanke dahinter allerdings war Dezentralität: In der Stadt Porto Alegre tagte das Internationale Seminar „10 Jahre danach: Herausforderungen und Vorschläge für eine andere Welt“, während der Großteil der Seminare sowie das Jugendcamp und das 2. Welt-Kulturtreffen in den von der Arbeiterpartei PT regierten Nachbargemeinden Novo Hamburgo, São Leopoldo, Canoa und Sapucaia do Sul stattfanden. Netzwerke zu wichtigen Themen wie „Solidarische Ökonomie“ und „Freier Zugang zu  Kultur“ diskutierten dort. Diese Organisation des Forums und die damit zusammenhängenden Konsequenzen wie den per Struktur vermiedenen Dialog zwischen den Generationen, lange Wege, aber auch eigenwillige Entscheidungen von PT-PolitikerInnen z.B. bei der Auswahl des so genannten Kulturprogramms waren während der Woche immer wieder Anlass für Diskussionen und Kritik. Genauso gab es auch öfter Verwirrung, welche Ausrichtung dieses Forum hat. Zwar suggeriert der Titel des Forums „Fórum Social Mundial. 10 Años“ dass ein Weltsozialforum stattfindet, doch gibt es im Jahr 2010 27 parallele Foren, die den Weg zum nächsten Weltsozialforum im Januar 2011 in Dakar im Senegal zeigen sollen. Auch die Herkunft der TeilnehmerInnen zeigte, dass dies ein lateinamerikanisches, aber vor allem ein brasilianisches Forum war. Nur wenige VertreterInnen von anderen Kontinenten waren angereist. Die OrganisatorInnen sprechen von insgesamt 15 Prozent Nicht-BrasilianerInnen unter den insgesamt 35.000 Teilnehmenden. Das zeigte auch die Demonstration am Eröffnungstag mit gut 5000 TeilnehmerInnen. Viele Transparente lokaler Gewerkschaften neben denen religiöser Bewegungen waren zu sehen, außer der Frauenbewegung waren nur wenige andere soziale Bewegungen sichtbar und auch Fahnen der MST oder PT waren die Ausnahme.


Demonstration


Eröffnungsveranstaltung

Männer mit weißen Bärten

Das Augenfälligste beim Eröffnungspanel des Internationalen Seminars war die Dominanz weißer Bärte auf der Bühne. Die Stimmen von Frauen wurden kurioserweise fast alle am Ende des Panels konzentriert. Wie so oft repräsentierte die Besetzung der Podien damit nicht das Publikum, das zu knapp 60 Prozent weiblich war. Gerade dieses Podium wurde mit großer Spannung erwartet, konnte es doch als Gradmesser dienen, in welcher Stärke, mit welcher Transparenz und Argumentation die Debatte um das zukünftige Selbstverständnis geführt wird. Im Großen und Ganzen einig war man sich bei der positiven Einschätzung der Arbeit des letzten Jahrzehnts. Die Vertreterin des WSF 2011 in Dakar sprach von seiner unsere Gedanken und Strukturen dekolonialisierenden Funktion, Chico Whitaker, einer der Gründungsväter des WSF, von den Sozialforen als „Räume, um zu üben, wie unsere Fragmentierung vermieden werden kann“. Auch ein weiterer Mann der ersten Stunde stärkte die Linie der „Horizontalisten“.  „The World Social Forum is not a boss, it is a process“, so Oded Grajew von CIVES und João Pedro  Stédile von der Landlosenbewegung MST ergänzte kämpferisch, dass es auch keine akademische Veranstaltung sei, sondern eine von und für Bewegungen. Immer wieder wurde die Verbreitung der Themen, die Verbesserung des Zugangs durch Übersetzung und alternative Medien positiv hervorgehoben. „Unsere Vielfalt zu genießen“, war die Aufforderung von Lilian Celiberti, Vertreterin der Articulación Feminista Mercosur aus Uruguay. Die Italienerin Raffaella Bollini, eines der wenigen weiblichen öffentlichen Gesichter des Forums, sprach in diesem Zusammenhang von einer Verantwortung, die wir ergreifen müssen, denn die Ideen für die Bewegung kämen nicht aus den Köpfen der Intellektuellen, sondern aus der Praxis. Trotzdem müssen wir aber auch an einer Agenda für die Zukunft arbeiten und Aktionen planen, so Cândido Grzybowski von IBASE.

Der Subsound

Damit sprach er als einer derjenigen, die das WSF 2001 aus der Taufe gehoben und auch das diesjährige Forum organisiert hatten, die Auseinandersetzungen an, die in diesem Treffen mitschwangen: Einerseits versteht sich das Forum als Raum und Prozess des Dialogs von unten, als ein Treffen, das den Geist einer anderen Welt verströmt. Es begann nicht umsonst als Gegenentwurf zum Weltwirtschaftsforum in Davos seine Erfolgsgeschichte. Dazu gehört vor allem auch die thematische Offenheit, die sich in keine feste Agenda pressen lässt. Andererseits ist der Streit um die Strukturierung der unterschiedlichen Foren und Diskussionen gerade zum zehnten Jahrestag präsenter denn je. Angesichts des Wachsens der weltweiten Klimabewegung, der schwachen Antwort der Linken auf die Krise, die hier oft angesprochene zivilisatorische Krise, denken viele über die Notwendigkeit einer deutlicheren Positionierung seitens des Forums nach.

Auch das ambivalente Verhältnis des WSF zu progressiven Regierungen in Lateinamerika wurde immer wieder problematisiert. Als positiv hervorgehoben wurde, dass einige der von Linken regierten Länder, z.B. Brasilien und Uruguay, unter der Finanz- und Bankenkrise 2009 weitaus weniger als Länder anderer Weltregionen gelitten hätten. In der Kritik standen jedoch der ungebrochene Wachstumsfetischismus und der Ausverkauf der Ressourcen in der Region und besonders das brasilianische Modell, das mehr und mehr eine hegemoniale Rolle in Südamerika spielt. Die Gefahr für die Sozialforumsbewegung sei, so Grzybowski, in diesen Allianzen verschlissen zu werden.

Halle-Lula


Lula im Giganthino

Auf den „Dialog mit dem Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva“ warteten sie am Nachmittag des zweiten Tages trotzdem stundenlang bei 30 Grad im Schatten. In seiner damaligen Funktion als PT-Vorsitzender war der ehemalige Metallgewerkschafter Lula während der ersten beiden Welt-Sozial-Foren 2001 und 2002 in Porto Alegre aufgetreten. Die Stimmung, die ihm – staatsmännisch in Schlips und Anzug  – dieses Mal von den VertreterInnen des Sozialforums, Cândido Grzybowski und Lilian Celiberti, entgegengebracht wurde, könnte man als kritisch-solidarisch beschreiben.  

Lula ging dann auch in seiner Rede kurz auf seinen persönlichen Werdegang ein, den er eng mit dem Forum verbunden sieht. Er verlor aber kein Wort zu dem Widerspruch zwischen Forderungen der Sozialforumsbewegung und Entscheidungen seiner Regierung, die er in den vergangenen acht Jahre zu verantworten hatte. Stattdessen betonte er die politische und wirtschaftliche Souveränität Brasiliens und sprach sich vehement gegen den dauerhaften Verbleib der USA in Haiti aus. Auch sei die Wirtschaftspolitik unter seiner Regierung mit dafür verantwortlich, dass es nicht zu solch dramatischen Bankenrettungen wie in den USA oder Europa kommen musste. Die Stimmung im Saal blieb jedoch diffus, fast unbeteiligt. Wurden bis zum Auftritt von Lula noch „La Ola“ geübt, verließen auffallend viele ZuhörerInnen das Stadion schon kurz nach den ersten Worten seiner Rede.

Die großen Fragen und unsere Antworten

Der zweite Tag des Internationalen Seminars stand unter der Überschrift „Die gegenwärtige Weltkonjunktur“ und in vier Panels wurde die sozialen, politischen, sozialen und ökologischen Situation diskutiert, innerhalb des Seminars eine Art Bestandsaufnahme. Darauf bauten die zwei darauf folgenden Tage auf. Die Entwicklung von Gegenstrategien waren das Herzstück. Vorgestellt und diskutiert wurden die Konzepte der Gratisökonomie, des Guten Lebens (Buen Vivir), der Commons und der Nachhaltigkeit; aus internationalen Perspektiven wurde sich den Fragen von Staatsorganisation und politischer Macht, Rechten und kollektiver Verantwortung, neuer Weltordnung und politischer Hegemonie gestellt.

Ein Versuch, die ProtagonistInnen aus den verschiedenen Panels dieser Tage zusammenzubringen, um die Vorschläge für alternative Entwicklungsmodelle zusammen zu bringen, war das Seminar: „Entwicklung – für was und für wen?“, das das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brasilien und zwei weitere NGOs auf die Beine gestellt hatten. Die Motivation der Teilnehmenden, Konzepte zusammen-zu-denken, die in der Theorie und Praxis oft keine Gemeinsamkeiten haben, war auch unter den oft widrigen Bedingungen spürbar. Besonders bei diesem Seminar ist die angekündigte „Systematiserung“ der Veranstaltung auf dem Blog des Internationalen Seminars (http://seminario10anosdepois.wordpress.com (automatische Google-Übersetzung vom Portugiesischen ins Deutsche)) ein spannender Ansatz.

Weitere interessante Programm-Schwerpunkte waren ein Forum zur Bekämpfung der noch immer existenten Sklavenarbeit in Brasilien sowie die Konzerte mit namhaften Künstlern wie den Mutantes, die, 1966 gegründet, einst gegen die Militärdiktatur antraten und sich nun zum Forum wieder zusammen fanden sowie die Rapper-Gruppe Los Racionais, die aus einer Favela der Peripherie São Paulos stammen. Nur drei Beispiele aus der Masse der 915 Aktivitäten, die das WSF 2010 zu bieten hatte.

Der Weg nach Dakar

Der letzte Tag sollte ganz im Zeichen der Systematisierung und des Ausblicks auf die dezentralen Foren bis Dakar 2011 stehen. Spontan entschieden die OrganisatorInnen jedoch, dass statt einer Zusammenfassung, Einordnung oder gar einer Extraktion des Diskutierten in einem gemeinsamen Dokument ein offenes Mikro eine bessere Auswertung des Seminars und vor allem des gesamten Forums gewährleisten würde. Diese Möglichkeit zur manchmal schonungslosen Kritik, die den Ausschluss der Jugendlichen und bestimmter Themen wie Medien und Kommunikation oder  Vernachlässigung der Rolle Chinas, die fehlende gesundheitliche Infrastruktur und die Nicht-Existenz eines gemeinsamen Programms aller Forumsaktivitäten thematisierte, wie auch die empathische Ermutigung zum Weiter-So war wichtig. Da man aber zum Schluss eine Stunde früher als geplant das Forum beendete, stellt sich die Frage, warum nicht beides möglich war. Die Vorbereitungsgruppe kündigte unterdessen an, auf dem Blog des Internationalen Seminars, mit dem das Seminar schon im Vorfeld begleitet wurde, eine „Systematisierung“ des Gesagten leisten zu wollen. Auf der portugiesischen Website des Forums (http://fsm10.procempa.com.br/wordpress/ (automatische Google-Übersetzung vom Portugiesischen ins Deutsche)) trug während der gesamten Woche ein JournalistInnen-Team die Ereignisse tagesaktuell zusammen.


Abschlusspodium Porto Allegre 2010

Das Abschlusspodium „Nach Dakar 2011: die Vielzahl der Foren dahin“ stand ganz im Zeichen der Vorstellung vieler der 27 parallelen Foren des Jahres 2010. Schlaglichtartig seien hier nur einige erwähnt: Kamal Lahbib, Vertreter aus Marokko stellte eine beeindruckende Anzahl von regionalen und thematischen Foren vor, die Frauen-Foren in Tunesien und Jordanien, Foren zu den Themen Landwirtschaft und Gesundheit in Ägypten und ein Sozialforum im Irak im November diesen Jahres. Auch wird es zeitgleich in Palästina und im Libanon ein Bildungsforum geben. Robert Spinoza von der Coordinidora Andina de Organizaciones Indígenas (Anden-Koordination der indigenen Organisationen) gab einen Einblick in die Vorbereitungen des Sozialforums „Krise der Zivilisation und Hegemonie“, das im Juli 2010 in Peru stattfindet. Die Einblicke in die Diskussionen des nächsten ESF in Istanbul vom 1.-4. Juli 2010, des „Foro Social de las Americas“ und des Pan-Amazonischen Forums machten das Bild noch breiter und es war nicht schwer – trotz aller Kritik an Intransparenz, an der Organisation, der täglichen Niederlagen der Arbeit vor Ort und der mühevollen Notwendigkeit, den Weltsozialforumsprozess für viel mehr Leute attraktiv zu machen – zu sagen: Wow, es passiert viel. Jetzt muss es noch kommuniziert, verbunden und solidarisch unterstützt werden.

 

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