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Berichte

Das Event-WSF ist tot – auf zum WSF 2022?!

(von Judith Dellheim, Rosa Luxemburg Stiftung)

Die Überschrift mag verwirren. Aber wer Gesellschaft demokratisch verändern will, ist immer mit Widersprüchen und Geschichte konfrontiert. Das gilt auch für das Weltsozialforum (WSF), dessen Nennung bei vielen älteren nostalgisches Schwelgen auslöst, bei vielen Jüngeren resigniertes Abwinken, bei vielen Jungen Schulterzucken.  Das WSF ist kein gemeinsamer Begriff für einen erlebnisreichen globalen Prozess im Alltag jener, die aktiv für ein selbstbestimmtes Leben in Würde, solidarischem Miteinander und gesunder Natur eintreten.  

Sozialforum: Event und Prozess

Dabei schien das 1. WSF 2001 im brasilianischen Porto Alegre so hoffnungsvoll: Zeitgleich zum Weltwirtschaftsforum in Davos versammelten sich ca. 12.000 Menschen aus aller Welt, um in Fortsetzung insbesondere der Anti-WTO-Proteste von Seattle klarzustellen: Eine andere Welt, eine solidarische und ökologische Welt ist möglich! 2003 waren es 100.000 Teilnehmer*innen! 2004 zog das WSF nach Mumbai, später nach Nairobi, 2013 nach Tunis und kehrte immer wieder nach Brasilien zurück.

Aber Events verlieren an Attraktivität, wenn sie nicht gezielt mit erfahrbaren globalen Kämpfen für die andere Welt verbunden sind und auch Jenen Hoffnung spenden, die an Reisen nicht denken können. Ergo: die WSF wurden nur sehr bedingt genutzt, um gemeinsam politische Handlungsbedingungen und praktische Erfahrungen zu analysieren, Handlungsmöglichkeiten aufzuspüren, Konzepte und Strategien im Ringen um gesellschaftliche Alternativen zu entwickeln,  konkrete Solidarität und wirksame Aktionen zu organisieren. Das konnten die Foren auch immer weniger, weil die irgendwie in den Internationalen Rat des WSF geratenen und dort verharrenden Persönlichkeiten viel zu wenig an derartigen Praxen beteiligt waren.

Damit aber verschwand ja nicht das Interesse der gerade hier Aktiven an einem dezentralen und horizontalen an der "anderen Welt" ausgerichteten gegenhegemonialen Prozess, der Gleichgesinnte mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten und verschiedenem sozialen, kulturellen und politischen Background von der lokalen Ebene über die regionale, staatliche, grenzübergreifend-territoriale bis hin zur globalen Ebene vernetzt. Und eben dieses Interesse teilen durchaus an verschiedenen Sozialforen Beteiligte – im Amazonas-Gebiet, in der Maghreb-Region,  in den kurdischen Gebieten ..., in thematischen Sozialforen wie zu Migration, das zuletzt 2018 in Mexiko-City veranstaltet wurde,  oder zu transformatorischer solidarischer ökonomie, das wegen Covid-19 2020 ausschließlich virtuell arbeitete. Dieses Interesse wird ebenso in trans-  und international arbeitenden Netzwerken artikuliert, die vielfach historisch in Welt- oder kontinentalen Sozialforen entstanden sind wie die globalen Networks zu Wasser und zu Saatgut und Boden.

Gegenwärtige WSF-Diskussion

In derartigen Networks und Foren sind immer wieder lateinamerikanische soziale Bewegungen besonders aktiv. Viele von ihnen aber haben DAS WSF für tot erklärt, so wie z. B. der namhafte bolivianische Politaktivist Pablo Solon, der das Netzwerk Global Dialogue for Systemic Alternatives mitgegründet hat und hier sehr aktiv ist. Ihm widerspricht die brasilianische Medienaktivistin Rita Freire, die einst die Medienplattform des WSF mitgeschaffen hat. Gemeinsam mit anderen hat Ritadiese 2019/2020 reaktiviert, um den Transformationsprozess des WSF zu versuchen. Sie verweist zum einen darauf, dass insbesondere junge Menschen in dezentral und horizontal ausgerichteten Prozessen konkrete Kapitalismuskritik praktizieren und sich global verbinden. Zum anderen diskutiert Rita das Potenzial der neuen Medien, um derartige Prozesse zu befördern. Dabei ist sie keineswegs technikgläubig und drängt sowohl auf die Arbeit an alternativer   freier   Software als auch auf die kritische Auseinandersetzung mit den modernen Informations- und Kommunikationstechnologien. Auch hier trifft sie insbesondere junge Menschen, die sich nicht für Jene interessieren, die von neuen Event-WSF mit Teilnahme-Rekorden träumen. Unter diesen sind nicht wenige Funktionäre von lateinamerikanischen Gewerkschaften und politischen Organisationen. Sie reden mit streitbarem Bezug auf die Charta von Porto Alegre als dem „Statut“ der Weltsozialforumsprozesse inhaltlicher Beliebigkeit das Wort. Ihre Position wird von vielen internationalen NGO geteilt. Darauf antworten nicht wenige "Klassenkämpferische" mit einem Avantgarde-Anspruch.  Sie tun das WSF als folgenlose Schwatzbude ab oder wollen es "politisieren". Darunter verstehen sie, dass sie selbst die Führungsrolle übernehmen.

Beide Tendenzen behindern den dezentralen horizontalen Prozess zur Organisation von emanzipativ-solidarischer Gegenhegemonie. Um diesen aber geht es jenen, die nach dem WSF 2018 im brasilianischen Salvador vereinbart hatten, nach zwei Jahren Experimentieren mit thematischen und regionalen WSF und der Analyse von neuen Erfahrungen, nicht zuletzt aus neuen sozialen Bewegungen, auf einem WSF als ARBEITSTREFFEN zusammen zu kommen. Ihr Grundgedanke ist "globaler Dialog für systemische Veränderungen" und damit auch ein Kooperationsangebot an jene, die das Sozialforum für tot erklären.

Die Pandemie verhinderte und erleichterte zugleich den Versuch: Einerseits konnte man sich nicht treffen, andererseits brauchte man nicht zu reisen, was auch ohne Covid 19 Viele nicht gekonnt oder gewollt hätten. Die Pandemie zwingt zur Diskussion über Gesundheit, ihre gesellschaftlichen und ökologischen Voraussetzungen und damit über systemische Veränderungen. Sie zwingt zur solidarischen globalen Aktion mit den von Covid Betroffenen und Bedrohten und zur kritischen Auseinandersetzung mit neuen Medien. Verschiedene Software-Entwicklungskollektive haben die Herausforderung angenommen und eine neue Kooperation organisiert. Die Pandemie zwingt aber auch zur Selbstkritik der Linken, die trotz globaler Finanzkrise noch immer nicht gelernt haben, sich von Krisen nicht überraschen zu lassen. Interessant war nun nicht zuletzt, dass sowohl die Initiative und Organisation des digitalen WSF 2021 als auch die Beteiligung daran insbesondere lateinamerikanisch geprägt waren. Das zeigen die Diskussion auf der wsf-discussion list, auf den offenen wsf-Plattformen1, die Protokolle der Medien-Arbeitsgruppe, die Veranstaltungen auf dem WSF und nicht zuletzt die Statistik: mehr als die Hälfte der über 10.000 Teilnehmer*innen leben in Brasilien und mehr als 70 % in Lateinamerika, oft in Mexiko.  Von ihnen sind wiederum die meisten kurzfristig "dazu gestoßen", wurden also durch andere aufmerksam gemacht. Nun muss man kritisch sagen: Es waren zu wenig, es war kein wirklich "globales" Forum und viele Aktive gerade in Lateinamerika haben von dem Forum nicht gewusst. Man kann aber auch hinzufügen: Ein gelungener Versuch für das regionale Panamazonische Sozialforum 2022 in Brasilien und für ein WSF 2022 in Mexiko, wo eine demokratische Konfrontation mit den in Lateinamerika und global Herrschenden angestrebt wird.

Mexiko 2022?

Dieses WSF soll ein "hybrides" werden: starke direkte Beteiligung und breite virtuelle Verlinkung mit Interessierten in aller Welt. Radikale Demokratie, ökosozialismus, ökofeminismus, das Interesse und Erfordernis nach globaler Solidarität und Kooperation unter sozialen Bewegungen und linken politischen Parteien in einem gegenhegemonialen Prozess von einander Gleichgestellten wurden in den Online-Treffen des Globalen Dialogs für systemische Veränderungen2 als Orientierung für globale Konvergenz ausgemacht. Man verständigte sich auf die unmittelbare Aktionsforderung "Allen das Impfen ermöglichen!" und erklärte im Arbeitspapier "Der Aufbauprozess von Konvergenzen ist kein 'Event'". An diesem Papier und so am Aufruf, die Impfkampagne, den UN-Klimagipfel in Glasgow, das WEF-Gegentreffen 2021 in Singapur, das WSF 2022 in Mexiko und das Panamazonische Sozialforum in Belem 2022 zu gemeinsamen Höhepunkten zu machen, war u.a. Pablo Solon aktiv beteiligt.

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1 https://join.wsf2021.net und http://openfsm.net
2 https://globaldialogue.online/en/

 

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