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Berichte

Überlegungen zur ECSA-Veranstaltung in Marseille-April 2024: Was ist zu tun?

von Haroon Saad (www.ludenet.org)

Das ist die Frage, die Lenin im Jahr 1901 beschäftigte, und es ist die Frage, die mich mehr als 120 Jahre später beschäftigt. Lassen Sie mich sagen dass ich im Gegensatz zu Lenin keinen fertigen Plan dafür habe, was zu tun ist. Deshalb hat mich die Veranstaltung European Common Space for Alternatives (ESCA) in Marseille angezogen. ECSA ist ein Versuch, verschiedene Organisationen zusammenzubringen, um eine Antwort auf die Frage „Was ist zu tun?“ zu finden.

ECSA ist ein Netzwerk von Netzwerken, das laut seiner Website aus einer Vielzahl von etwa 40 Organisationen besteht. Ziel ist es, einen Raum zu schaffen, der es Bürgerbewegungen ermöglicht, Erfahrungen auszutauschen und gemeinsame Initiativen zu mobilisieren.

Abgesehen von Fragen bezüglich der tatsächlichen Organisation der Veranstaltung ist es ganz klar, dass ESCA nicht über die Kapazitäten oder die Vernetzung verfügt, um seine Ziele zu verwirklichen. Vielleicht bin ich zu hart, aber zum jetzigen Zeitpunkt wird ESCA von einer Handvoll Organisationen geleitet, man könnte sagen von den üblichen Verdächtigen, die im Wesentlichen versuchen, die Flamme früherer Aktionen wiederzubeleben (z. B. das Europäische Sozialforum), dies aber in einem Kontext der radikal anders ist. Lassen Sie mich gleich zu Beginn sagen, dass ich den Organisatoren dafür applaudiere, dass sie sich dieser Herausforderung gestellt haben, aber ich verließ die Veranstaltung mit dem etwas enttäuschenden Gefühl, dass ECSA offensichtlich weder in der Lage sein würde eine Vision darüber zu entwickeln, was getan werden muss, oder eine Strategie für die Entwicklung einer solchen Vision, noch in der Lage sein würde sie umzusetzen. Ich sage das, weil zwischen der Realität vor Ort und der europaweiten Mobilisierung, die ESCA anstrebt, ein grundlegendes Missverhältnis besteht. Lassen Sie mich näher darauf eingehen.

Eine neue Welt kommt, das ist sicher, aber das Problem ist, wie wir ihre Entstehung unterstützen können? Wie können wir sicherstellen, dass die neue Welt nicht nur eine Umgestaltung dessen ist, was wir haben? Ich sage das als jemand, der sich stark für „grüne“ Alternativen engagiert hat, nur um dann mit anzusehen, wie das gesamte Konzept von Grün von politischen und wirtschaftlichen Eliten korrumpiert und vereinnahmt wird, um dem, was nach wie vor räuberisch und extraktiv ist, eine Art oberflächlichen Glanz zu verleihen. Noch deprimierender war es zu sehen, wie grüne politische Parteien „grüne Lösungen“ propagierten, die alles andere als grün sind, um sich mehr Sitze in verschiedenen Parlamenten zu sichern, als ob der „lange Marsch durch die Institutionen“ der Weg wäre radikale Veränderungen herbeizuführen.

Das Problem, mit dem wir konfrontiert sind, ist, wie wir einen radikalen Wandel herbeiführen können. Reformismus ist keine Option. Ich stimme Naomi Kline voll und ganz zu, wenn sie sagt, dass uns die Zeit für alles andere als radikale Lösungen ausgegangen ist. Die Schlüsselfragen sind jedoch, was radikale Lösungen sind und was zivilgesellschaftliche Organisationen tun können, um radikale Veränderungen herbeizuführen.

Ist die Desinvestition in fossile Brennstoffe eine radikale Lösung oder handelt es sich lediglich um eine sinnvolle finanzielle Umstellung, wenn zukünftige Erträge und Investitionen in fossile Brennstoffe bereits langfristig rückläufig sind? Ist die Förderung von Biokraftstoffen eine radikale Lösung oder lediglich eine Möglichkeit, mehr Landraub und Abholzung zu legitimieren? Ist Gas wirklich eine Brücke zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft? Ich könnte so weitermachen, aber ich möchte darauf hinweisen, dass wir keine „radikale Lösung“ haben, also keine gemeinsame Vision, wie unsere Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie und Politik umgestaltet werden könnten, um mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen und planetare Nachhaltigkeit. Was wir haben, ist eine Vielzahl von Maßnahmen auf lokaler Ebene, die sich mit spezifischen Problemen befassen, mit denen wir konfrontiert sind, aber keine davon weist für sich genommen oder auch nur in ihrer Gesamtheit auf einen systemischen Wandel hin.

Uns mangelt es nicht nur an einer gemeinsamen Vision für systemische Veränderungen, sondern auch an einer kohärenten Strategie zur Umsetzung systemischer Veränderungen. Sicher, wir verfügen über Werkzeuge, Toolkits usw., um organisatorische Veränderungen herbeizuführen, aber werden Varianten der Mainstream-Managementtheorie allein ausreichen, um systemische Veränderungen herbeizuführen? Ich habe an vielen inspirierenden Trainings- und Coaching-Programmen teilgenommen und bin sicher, dass ich durch diese Momente des kollektiven Teilens und Austauschs als Arbeiter, Freund, Vater und Ehemann „besser“ geworden bin, aber das hat nicht dazu geführt, dass ich ein Agent für systemische Veränderungen geworden bin außer in meinem Kopf und durch kleine Aktionen, die ihrer Natur nach „marginal“ sind und darüber hinaus im Allgemeinen nur von kurzer Dauer sind, wenn die Leute weiterziehen oder die Finanzierung endet.

Wenn es auf europäischer Ebene einen radikalen Wandel geben soll, muss dieser einen radikalen Wandel der derzeitigen institutionellen Regelungen umfassen. Es ist in der Tat erfreulich, die große Zahl an NGO-Netzwerken, Plattformen und Bewegungen zur Kenntnis zu nehmen, die alle eine Veränderung des europäischen Projekts fordern. Es gibt Alter EU, Plan B, Blockupy, Attac, Alter Summit, Young European Left, Transnational Social Strike Network, Network for Political and Social Rights, Global Project, Precarious Disconnections, Transform Europe, Beyond Europe, European Alternatives usw. Viele davon sind Mitglieder der ESCA, aber es gibt kein wirkliches gemeinsames Programm, um einen systemischen Wandel im europäischen Projekt herbeizuführen, da jede Fokussierung auf Details sofort große Risse kreieren würde.

Beispielsweise war eine der Veröffentlichungen, die ich bei der Veranstaltung in Marseille entdeckte, eine sehr gute Publikation der Rosa Luxemburg Stiftung, geschrieben von Kenneth Haar vom Corporate Europe Observatory, mit dem Titel „A Europe of Capital“ ("Ein Europa des Kaptals", Anm.d.Ü.). Das Fazit dieser hervorragenden Röntgenaufnahme, wie korrupt der europäische Entscheidungsprozess geworden ist, lautet: "Die EU ist in den letzten Jahren nicht mehr sondern weniger demokratisch geworden." Daher „ist es für Progressive in ganz Europa notwendig, größer und langfristiger zu denken und über die Annahme des nächsten politischen Vorschlags oder des nächsten Klimaplans hinauszuschauen." "Wirkliche Veränderungen erfordern eine radikale Umgestaltung der Grundlagen der EU.“ (meine Hervorhebung).

In keiner der Sitzungen, an denen ich teilgenommen habe, stand dieser Punkt auf der Tagesordnung. Stattdessen wurden wir aufgefordert, bei den EU-Wahlen gegen die extreme Rechte zu kämpfen, als ob dies möglich wäre, obwohl das gesamte EU-Projekt tatsächlich extrem rechts geworden ist. Tatsächlich besteht, wie Kenneth Haar richtig bemerkt, das gemeinsame Band fortschrittlicher EU-Organisationen einfach darin, Kundgebungen zu organisieren, die mit wichtigen Mainstream-Ereignissen verbunden sind. In diesem Fall die EU-Wahlen. Ich erkenne zwar voll und ganz die Notwendigkeit an, durch Protest einen sichtbaren alternativen Diskurs aufrechtzuerhalten, aber solche Aktionen werden niemals zu systemischen Veränderungen führen und dennoch wird viel Energie und Ressourcen in solche Aktionen gesteckt.

Was im Diskurs über systemische Veränderungen weitgehend fehlt ist die Frage der Macht und ihrer Funktionsweise. Natürlich gibt es nackte Gewalt, insbesondere gegen jene Gruppen, die stigmatisiert sind und kaum Zugang zu gerichtlichem Schutz haben. Für diejenigen von uns, die systemische Veränderungen unterstützen wollen, stellt jedoch der Einsatz von Soft Power die größte Herausforderung dar. Bei Soft Power geht es nicht nur um „alternative Fakten“ oder „Post-Fakten“. Es geht nicht nur um die Wirkung von Werbung und Produktplatzierung, die eine Nachfrage nach mehr Produkten schafft. Es geht im Wesentlichen darum, wie Soft Power uns von einer Marktwirtschaft in eine Marktgesellschaft verwandelt hat, wie Michael Sandel in seinem hervorragenden Buch „What Money Can’t Buy“ ("Was man mit Geld nicht kaufen kann", Anm.d.Ü.) feststellt. Soft Power ist das, was Steven Lukes die „unsichtbare“ Gestaltung von Wünschen durch Manipulation von Gruppenwerten durch Fehlinformationen, Social Engineering und Propaganda nennt.

Für mich ist der sichtbare Ausdruck von Soft Power darin zu sehen, dass unsere Städte von dem dominiert werden, was der Schriftsteller Kyle Chayka „AirSpace“ ("Luftraum", Anm.d.Ü.) nannte, was eine neue Atmosphäre erstrebenswerter Bequemlichkeit ohne jeden bestimmten Ort bedeutet. Die gleiche Atmosphäre finden Sie am Arbeitsplatz, in Kaffeehäusern, Restaurants und Bars. Einfach mit einem Foto festzuhalten, das mit dem Telefon aufgenommen und in den sozialen Medien gepostet wird. Es dient dazu, die rasch zunehmende geografische Ungleichheit in unseren Städten zu vertuschen.

Wir müssen uns darauf konzentrieren, mit diesen Auswirkungen von Soft Power umzugehen. Es bedeutet, moralische Fragen aufzuwerfen und herauszufinden, was es heißt, „Mensch“ zu sein. Wir müssen Fragen nach Werten stellen. Werte nutzen und Werte tauschen. Was versteht man unter Wohlstand? Wir müssen das Mantra des Wachstums in Frage stellen. Wir müssen Bildung neu denken und sie von der Schule trennen.

All dies bedeutet mehr Präsenzzeit statt Präsenzzeit vor dem Computerbildschirm. Hier liegt die Möglichkeit für echte systemische Veränderungen durch die Ressourcen, über die zivilgesellschaftliche Organisationen verfügen. Es handelt sich um einen organischen Prozess menschlichen Engagements, der wiederum die größte Herausforderung darstellt, da er die Art und Weise in Frage stellt, wie wir unsere Zeit nutzen. Im Moment sind wir so sehr in unsere eigenen individuellen/organisatorischen Probleme verstrickt, dass wir vergessen, unsere Arbeitsweise und unser Handeln zu ändern.

Worauf sich die ESCA also konzentrieren sollte ist die Frage, wie sie einige ihrer Ressourcen dezentralisieren (verschenken) kann, um in einigen Städten in ganz Europa mehr gemeinsame Alternativräume von unten nach oben zu ermöglichen/anzuregen um dann die daraus resultierenden Ergebnisse zum Aufbau eines echten europäischen Raums für Alternativen zu nutzen. Wie David Bowie sagte: „Der Morgen gehört denen, die ihn kommen hören können“ und es sind die Menschen vor Ort, die dies hören und fühlen, im Gegensatz zu uns, die es überwiegend nur wissen.

 

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