Berichte
"Davos ist die Vergangenheit, Porto Alegre die Zukunft"
(von Gerhard Dilger, Informationsstelle Lateinamerika)
Für sechs Tage hat sich die Katholische Universität von Porto Alegre in
eine Hochburg der GlobalisierungskritikerInnen verwandelt.
Brasilianische Landlose, afrikanische Intellektuelle, Basisaktivisten
aus Indien, nordamerikanische Umweltschützer, argentinische
Anarchisten, baskische Nationalisten, Gewerkschafter aus Frankreich,
Schwarze, Weiße, Indianer, Studenten, Politiker - die Liste der 3.000
Delegierten des ersten Weltsozialforums ist lang. Sie alle - wie auch
Tausende von Gelegenheitsbesuchern - sind davon überzeugt, dass "eine
andere Welt möglich ist" - so das offizielle Tagungsmotto. Workshops,
Podiumsdiskussionen und Kulturveranstaltungen wechseln einander ab,
eine überfüllter als die andere.
Auf die Repression gegen die Demonstranten beim gleichzeitig
stattfindenden Weltwirtschaftsforum in Davos reagierten die Bewohner
des Jugendcamps mit einer Solidaritätsdemonstration durch das
Stadtzentrum von Porto Alegre. "Davos ist die Vergangenheit, Porto
Alegre die Zukunft," begann Walden Bello sein flammendes Plädoyer für
eine Neuordnung des internationalen Handels- und Finanzsystems. Der
philippinische Soziologe und Leiter des Forschungszentrums "Focus on
the Global South" in Bangkok war vor Jahresfrist noch selbst in Davos
und hatte in Prag an einem denkwürdigen Dialog zwischen IWF/Weltbank
und NGO-Vertretern teilgenommen. Für ihn müssen "Widerstand" und
"Innovation" dialektisch zusammen gedacht werden. Nach den Protesten
von Seattle bis Davos ist das Weltsozialforum in Porto Alegre der erste
groß angelegte Versuch, Vorschläge zu entwickeln. Doch ob und in
welcher Form bis Dienstag ein "konstruktiver" kleinster gemeinsamer
Nenner gefunden werden kann, ist noch völlig offen.
Einige Themen kehren auf diversen Veranstaltungen immer wieder: etwa
die Steuer auf internationale Finanztransaktionen ("Tobinsteuer"), ein
Anliegen des mittlerweile in gut 20 Ländern funktionierenden "Netzwerks
für eine demokratische Kontrolle der Finanzmärkte" Attac. Auf dem
"Parlamentarierforum" mit 460 TeilnehmerInnen machte sich der
französische Europaabgeordnete Harlem Désir dafür stark - wie auch Ulla
Lötzer von der PDS, die einzige anwesende deutsche
Bundestagsabgeordnete. Ebenfalls unumstritten unter den 3000
Delegierten ist die Forderung nach einem Schuldenerlass für die Länder
des Südens. Der kubanische Parlamentspräsident Ricardo Alarcón
erinnerte daran, dass sich die Schuldenlast der Drittweltländer seit
1980 von 567 Milliarden auf gut 2,5 Billionen US-Dollar vervielfacht
hat, und dies, obwohl die Schulden in diesem Zeitraum bereits mehrfach
zurückgezahlt wurden.
In Lateinamerika habe sich die Zahl der Armen auf 200 Millionen mehr als
verdoppelt. Den ärmsten Ländern Afrikas werde durch die Überschuldung
jede Chance zur eignständigen Entwicklung genommen. Und, am Rande, auch
die Zahlungsmoral der USA lasse zu wünschen übrig, etwa wenn es um ihre
UNO-Beiträge gehe. Weiterer Konsens: die Stärkung staatlicher
Einrichtungen, wie sie der französische Ex-Minister Jean-Pierre
Chevènement forderte, aber auch die Gastgeber von der brasilianischen
Arbeiterpartei PT. In Porto Alegre stehen sie seit 12 Jahren für eine
Kommunalpolitik, wie sie in Lateinamerika selten zu finden ist:
nicht-korrupt und sozial mit basisdemokratischen Elementen in der
"partizipativen Haushaltsaufstellung", durch die die Betroffenen selbst
über die Investionen der öffentlichen Hand bestimmen können.
PT-Ehrenvorsitzender Luiz Inácio Lula da Silva, mehrfach umjubelter Star der Veranstaltung, brach
eine Lanze für die Politik: Die Rechte versuche das Treffen als
"politisch" im Sinne von parteipolitisch zu diskreditieren: "Es ist
doch keine Schande, wenn man Politik macht, und dann auch noch die
richtige," so Lula, der gegen die "verrückte Doktin des
Neoliberalismus" wetterte, "ein perverses System", das allein in
Brasilien in den vergangen beiden Jahren 350 000 Kindern den Tod
gebracht habe. "Es gilt, zu widerstehen, auch wenn es einfacher ist,
sich zu verkaufen," sagte er - diese Haltung habe ihm bereits den Sieg
bei der Präsidentschaftswah 1989 gekostet.
Bei aller radikaler Rhetorik kommt die Praxis der PT auf Stadt- und
Landesebene jener der klassischen Sozialdemokratie sehr nahe. Dabei
unterstützt sie nach Kräften die Landlosenbewegung MST, die mit ihren
medienwirksamen Massenaktionen sehr gut fährt. Am Rande des
Weltsozialforums gewann sie den legendären französischen
Bauernaktivisten José Bové für die Besetzung eines Versuchsareals des
US-Multis Monsanto. 800 Landlose rupften zwei Hektar Gensoja aus, und
João Pedro Stedile von der MST-Spitze beschuldigte den Konzern, den in
Brasilien illegalen Anbau von Gensoja zu fördern.
Damit lieferte die MST wieder einmal
ein Paradebeispiel für Bellos Dialektik von Widerstand und Innovation:
Zusammen mit Bauernvertretern aus 30 Ländern, die in der "Vía
Campesina" zusammengeschlossen sind, arbeitet sie an intensiv an einer
"Bauerninternationale". Am 7. April ist ein erster weltweiter
Aktionstag gegen Gentechnik geplant; zehn Tage darauf sollen Straßen,
Häfen und Schienen blockiert werden, um gegen Agrarimporte zu
protestieren. Einig sind sich Stedile, Bové und
Vía-Campesina-Vorsitzender Rafael Alegría aus Honduras in ihrer
Forderung, dass die Landwirtschaft auf die internen Märkte ausgerichtet
werden solle, um den Hunger zu beseitigen.
Diese Art der Produktion solle subventioniert werden, nicht aber der
Export. Handelsabkommen sollten bilateral geschlossen werden,
"unabhängig von der WTO, die die Interessen der reichen Länder
vertritt," meint Stedile. Die Hauptforderung der Vía Campesina ist eine
umfassende Agrarreform in den Ländern des Südens.
Natürlich versuchen auch
noch andere, die Öffentlichkeit des Forums für ihre Zwecke zu nutzen:
Ein Vertreter der kolumbianischen FARC-Guerilla, der aus der
berechtigten Empörung gegen die US-Intervention und selbst aus einem
halbherzigen Auftrittsverbot Kapital schlägt, brasilianische
Linkspolitiker, der französische Jet-Set von Danielle Mitterrand, dem
Ex-Minister Chevènement bis hin zu zwei Mitgliedern der Regierung
Jospin, die im Plemun hart angegangen wurden. Die einzige deutsche
Organisation, die es für wert hielt, sich offiziell zu beteiligen, war
das örtliche Goethe-Institut - es lud vier Referenten ein.
Unterrepräsentiert auch die angloamerikanische Welt, während aus den
benachbarten Uruguay und Argentinen besonders viele Menschen den Weg
nach Porto Alegre fanden.
Walden Bello sieht nun die "historische Chance" gekommen,
"hierarchische, undemokratische Institutionen" wie den Internationalen
Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Welthandelsorganisation
weiter zu schwächen. Seine Alternative: "Deglobalisierung". "Wir
sollten uns nicht von der Weltwirtschaft abkoppeln, aber wieder mehr
für den internen Verbrauch produzieren," sagte Bello. Auch die
Abhängigkeit von ausländischen Investionen und Finanzmärkten gelte es
zu reduzieren. Ziel jeglicher Politik müsse es sein, die Vielfalt
menschlicher Gemeinschaften zu respektieren und zu fördern. Wie können
- angesichts der realen Machtverhältnisse - die Forderungen des Forums
umgesetzt werden, damit der Druck auf die neoliberale Weltordnung
anhält? Auch hierfür hat sich schon eine gemeinsame Sprachregelung
eingebürgert. Durch die Verstärkung der "sozialen Kämpfe" in den
jeweiligen Ländern, so etwa Attac-Vorsitzender und Mitorganisator
Bernard Cassen, müssten den Regierungen Konzessionen abgerungen werden.
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