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Berichte

Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist schon im entstehen. An einem ruhigen Tag kann ich sie atmen hören.

Text der Rede von Arundhati Roy (Indien), gehalten auf der Schlußkonferenz "Kampf dem Empire" im Gigantinho am 27.01.2003.

(Anmerkung: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat die in englischer Sprache gehaltene Rede am 05.02.03 ebenfalls auszugsweise in deutscher Sprache veröffentlicht. Die folgende vollständige Neuübersetzung des Originaltextes stammt von Sonnja Mezger; die darin enthaltenen kursiven Passagen fehlen in der FAZ-Veröffentlichung.)

"Ich wurde gebeten, über die Frage "Wie kann man dem Empire gegenübertreten?" zu sprechen. Das ist eine große Frage und ich habe keine einfachen Antworten.

Wenn wir über den Kampf gegen das "Empire" sprechen, müssen wir herausfinden, was unter "Empire" zu verstehen ist. Die US-Regierung (und ihre europäischen Satelliten), die Weltbank, der Internationale Währungsfond (IMF), die Welthandelsorganisation (WTO) und multinationale Unternehmen? Oder ist es mehr als das?

In vielen Ländern sind dem Empire zusätzliche Köpfe gewachsen, einige gefährliche Nebenprodukte - Nationalismus, religiöse Intoleranz, Faschismus und natürlich Terrorismus. Das alles geht mit dem Projekt der Globalisierung der Konzerne einher.

Lasst mich erläutern, was ich meine. Indien - die größte Demokratie der Welt - steht zur Zeit an der Spitze des Globalisierungsprojekts. Sein "Markt" von einer Milliarde Menschen ist von der WTO aufgebrochen worden. Konzerne und Privatisierung werden von der Regierung und der indischen Elite willkommen geheissen.

Es ist kein Zufall, dass der Premierminister, der Innenminister, der Investitionsabbauminister - die Männer, die das Geschäft mit Enron in Indien unterschrieben haben, die Männer, die die Infrastruktur des Landes an Firmenmultis verkaufen, die Männer, die Wasser, Elektrizität, Öl, Kohle, Stahl, Gesundheit, Bildung und Telekommunikation privatisieren wollen - alle Mitglieder oder wenigstens Bewunderer des RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh) sind. Der RSS ist eine rechte, ultra-nationalistische Hindu Gilde, die offen Hitler und seine Methoden bewundert hat.

Die Demontage der Demokratie geht mit der Geschwindigkeit und Effizienz eines Strukturanpassungsprogramms voran. Währenddessen zerreisst das Globalisierungsprojekt das Leben der Menschen in Indien und massive Privatisierung und Arbeits-"Reformen" vertreiben die Menschen von ihrem Land und aus ihren Jobs. Hunderte von verarmten Bauern begehen Selbstmord, indem sie Pestizide trinken. Berichte von Hungertoten gehen aus allen Teilen des Landes ein.

Während die Elite an ihr imaginäres Ziel irgendwo in der Nähe der Weltspitze reist, trudeln die Enteigneten abwärts hinein in Kriminalität und Chaos. Dieses Klima der Frustration und der nationalen Desillusionierung ist der ideale Nährboden, wie uns die Geschichte lehrt, für Faschismus.

Die beiden Arme der indischen Regierung haben das Land in einen perfekte Würgegriff genommen. Während der eine Arm damit beschäftigt ist, Indien in großen Teilen zu verkaufen, dirigiert der andere, um die Aufmerksamkeit abzuwenden, einen heulenden, bellenden Chor hindu-nationalistischer und religiös-faschistischer Stimmen. Er führt Atomtests aus, schreibt Geschichtsbücher um, brennt Kirchen nieder und zerstört Moscheen. Zensur, Überwachung, die Aufhebung von Bürger- und Menschenrechten, die Definition, wer ein indischer Staatsbürger ist und wer nicht, besonders im Hinblick auf religiöse Minderheiten, wird jetzt allgemein üblich.
 
Im letzten März wurden im Bundesstaat Gujarat zweitausend Muslime in einem vom Staat gesponsorten Pogrom abgeschlachtet. Muslimische Frauen wurden besonders zum Ziel. Sie wurden ausgezogen und mehrfach vergewaltigt, bevor sie bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Brandstifter plünderten und verbrannten Geschäfte, Wohnungen, Textilfabriken und Moscheen.

Mehr als einhundertfünfzigtausend Muslime waren von ihrem Zuhause vertrieben worden. Die ökonomische Grundlage der muslimischen Gemeinschaft war zerstört worden.

Während Gujarat brannte, warb der indische Premierminister auf MTV für seine neuen Gedichte. Dieses Jahr im Januar wurde die Regierung, die das Morden instrumentalisiert hatte, mit einer satten Mehrheit wiedergewählt. Niemand wurde für den Genozid bestraft. Narendra Modi, der Architekt des Pogroms und stolzes Mitglied des RSS, hat seine zweite Amtszeit als Landesminister von Gujarat angetreten. Wenn er Saddam Hussein wäre, dann wäre natürlich jede Gräueltat auf CNN zu sehen gewesen. Aber weil er es nicht ist - und da der indische "Markt" globalen Investoren offen steht - ist das Massaker nicht einmal peinlich oder unangenehm.

In Indien gibt es mehr als eine Million Muslime. Eine Zeitbombe tickt in unserem uralten Land.

All dies soll sagen, dass es ein Mythos ist, dass der freie Markt nationale Schranken einreisst. Der freie Markt bedroht die nationale Souveränität nicht, er untergräbt die Demokratie.

So wie der Unterschied zwischen reich und arm wächst, so verstärkt sich der Kampf um die knappen Ressourcen. Um ihre Vetternwirtschaft durchzudrücken, um sich die Nahrungsmittel, die wir anbauen, anzueignen, das Wasser, das wir trinken, die Luft, die wir atmen, und die Träume, die wir träumen, braucht die Globalisierung ein internationales Bündnis von loyalen, korrupten, autoritären Regierungen in ärmeren Ländern, um unpopuläre Reformen durchzudrücken und Meutereien niederzuschlagen.

Die Globalisierung der Konzerne - oder sollen wir sie beim Namen nennen? - Imperialismus - braucht eine Presse, die vorgibt, frei zu sein. Sie braucht Gerichte, die vorgeben, Recht zu sprechen.

Währenddessen verstärken die Länder des Nordens ihre Grenzen und legen einen Vorrat an Massenvernichtungswaffen an. Schließlich müssen sie dafür sorgen, dass nur Geld, Waren, Patente und Dienstleistungen globalisiert werden. Nicht die Bewegungsfreiheit der Menschen. Nicht der Respekt vor Menschenrechten. Nicht die internationalen Verträge über Rassendiskriminierung oder über chemische und atomare Waffen oder über Treibhausgas-Emissionen oder Klimawechsel, oder - Gott bewahre - über Recht.

Das also - alles das - ist "Empire". Dieses loyale Bündnis, diese unanständige Anhäufung von Macht, dieser stark vergrößerte Abstand zwischen denen, die die Entscheidungen treffen, und denen, die unter ihnen leiden.
Unser Kampf, unser Ziel, unsere Vision einer anderen Welt muss es sein, diesen Abstand zu beseitigen.

Wie also können wir dem "Empire" Widerstand leisten?

Die gute Nachricht ist, dass wir nicht zu schlecht dastehen. Es gab bedeutende Siege. Hier in Lateinamerika hattet ihr so viele - in Bolivien habt ihr Cochabamba. In Peru gab es den Aufstand in Arequipa. In Venezuela hält Präsident Hugo Chavez durch, trotz der größten Bemühungen der US-Regierung.

Und die Augen der Welt sind auf die Menschen in Argentinien gerichtet, die versuchen, ein Land neu zu gestalten, aus der Asche der Verwüstung, die der IMF angerichtet hat.

In Indien kommt die Bewegung gegen die Globalisierung in Fahrt und wird sicherlich die einzige echte politische Kraft werden, um religiösem Faschismus entgegenzuwirken.

Und die schillernden Botschafter der Globalisierung - Enron, Bechtel, WorldCom, Arthur Anderson - wo waren sie letztes Jahr und wo sind sie jetzt?

Und natürlich müssen wir hier in Brasilien fragen, wer letztes Jahr Präsident war und wer es jetzt ist.

Dennoch erleben viele von uns dunkle Momente der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Wir wissen, dass unter dem weiten Baldachin des Anti-Terror-Kriegs die Männer in Anzügen hart arbeiten.

Während Bomben auf uns niederprasseln und Marschflugkörper am Himmel gleiten, wissen wir, dass Verträge unterzeichnet werden, dass Patente registriert werden, dass Ölpipelines gelegt werden, dass natürliche Ressourcen geplündert werden, dass Wasser privatisiert wird, und dass George Bush plant, gegen den Irak in den Krieg zu ziehen.

Wenn wir diesen Konflikt als direkten Kampf Auge in Auge zwischen dem "Empire" und denen von uns, die ihm Widerstand leisten, sehen, könnte es so aussehen, als verlören wir.

Aber man kann es auch anders sehen. Wir, alle, die wir hier versammelt sind, haben begonnen, jedeR auf die eigene Weise, das "Empire" zu belagern.

Wir haben es vielleicht nicht auf seinem Weg aufgehalten - noch nicht -, aber wir haben es auseinandergenommen. Wir haben es gezwungen, seine Maske fallenzulassen. Wir haben es in die Öffentlichkeit gezwungen. Jetzt steht es vor uns auf der Bühne der Welt in all seiner brutalen, schändlichen Blöße.

Es könnte sein, dass das "Empire" in den Krieg zieht, aber es ist jetzt in der Öffentlichkeit - zu häßlich, um sein eigenes Spiegelbild zu anzusehen. Sogar zu häßlich, um seine eigenen Leute um sich zu scharen. Nicht lange und dann wird die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung unsere Verbündeten sein.

Gerade vor ein paar Tagen marschierte eine Viertelmillion Menschen in Washington gegen den Krieg im Irak. Jeden Monat gewinnt der Protest an Fahrt.

Vor dem 11. September 2001 hatte Amerika eine geheime Geschichte. Geheim besonders vor der eigenen Bevölkerung. Aber Amerikas Geheimnisse sind Geschichte und seine Geschichte ist allgemein bekannt. Sie ist Stadtgespräch.

Heute wissen wir, dass jedes Argument, das zur Einstimmung auf einen Irak-Krieg benutzt wird, eine Lüge ist. Das lächerlichste davon ist die tiefe Verpflichtung der US-Regierung, dem Irak die Demokratie zu bringen.

Menschen zu töten, um sie vor Diktatur und ideologischer Verdorbenheit zu retten, ist natürlich ein alter Sport von US-Regierungen. Hier in Lateinamerika wisst ihr das besser als die meisten.

Niemand bezweifelt, dass Saddam Hussein ein rücksichtsloser Diktator, ein Mörder ist (dessen schlimmste Exzesse von den Regierungen der Vereinigten Staaten und Grossbritanniens unterstützt wurden). Es gibt keinen Zweifel daran, dass die IrakerInnen ohne ihn besser dran wären.

Aber die ganze Welt wäre besser dran ohne einen gewissen Mr. Bush. Tatsächlich ist er wesentlich gefährlicher als Saddam Hussein.

Also, sollten wir Bush aus dem Weissen Haus bomben?

Es ist mehr als klar, dass Bush entschlossen ist, gegen den Irak Krieg zu führen, ungeachtet der Fakten - und ungeachtet der internationalen öffentlichen Meinung.

In ihrem Elan, Verbündete zu gewinnen, sind die Vereinigten Staaten bereit, Fakten zu erfinden.

Die Scharade mit den Waffeninspektoren ist das widerliche, beleidigende Zugeständnis der US-Regierung an eine verdrehte Form internationaler Etikette. Es ist, als ob man die "Hundeklappe" offen lässt, damit Lastminute-"Verbündete" oder vielleicht die Vereinten Nationen durchkriechen können.

Im Grunde hat der neue Krieg gegen den Irak begonnen.

Was können wir tun?

Wir können unser Gedächtnis schärfen, wir können von unserer Geschichte lernen. Wir können weiter öffentliche Meinung machen, bis es ein ohrenbetäubendes Gebrüll ist.

Wir können den Irak-Krieg zu einem Brennglas der Exzesse der US-Regierung machen.

Wir können George Bush und Tony Blair - und ihre Verbündeten - als die feigen Babykiller, die Wasservergifter und die verzagten Fernbomber bloßstellen, die sie sind.

Wir können zivilen Ungehorsam auf millionenfache Weise immer neu erfinden. Mit anderen Worten, wir können auf millionenfache Weise ein kollektiver Stachel im Fleisch sein.

Wenn George Bush sagt "entweder seid ihr für uns oder ihr seid für die Terroristen", können wir sagen: "Nein, danke!" Wir können ihn wissen lassen, dass die Menschen der Welt nicht zwischen einem böswilligen Mickey Mouse und den wahnsinnigen Mullahs wählen müssen.

Unsere Strategie sollte es sein, das Empire nicht nur herauszufordern, sondern es in Belagerung zu nehmen. Ihm den Sauerstoff zu nehmen. Es zu beschämen. Es zu verspotten. Mit unserer Kunst, unserer Musik, unserer Literatur, unserer Sturheit, unserer Freude, unserer Brillianz, unserer puren Unnachgiebigkeit - und unserer Fähigkeit, unsere eigenen Geschichten zu erzählen. Geschichten, die anders sind als die, für die wir einer Gehirnwäsche unterzogen werden, damit wir sie glauben.

Die Revolution der Konzerne wird zusammenbrechen, wenn wir uns weigern, das zu kaufen, was sie verkaufen - ihre Ideen, ihre Version der Geschichte, ihre Kriege, ihre Waffen, ihr Begriff der Unvermeidbarkeit.

Denkt daran: wir sind viele und sie sind wenige. Sie brauchen uns mehr als wir sie.

Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist schon im entstehen. An einem ruhigen Tag kann ich sie atmen hören."

Arundhati Roy, Porto Alegre, Brazil, 27. January 2003

 

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