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Berichte

Millionäre auf der Müllhalde

Die Globalisierungsgegner treffen sich in der Stadt der Gegensätze. Bombay beherbergt mehr Superreiche als Manhattan – doch zugleich leben sechs Millionen Menschen in Slums.

Zum Gipfel scheint kein Weg zu führen. Schall und Rauch verdichten sich, wenn man in der 15-Millionen-Metropole Bombay jenem Platz im Norden näher kommt, wo am Freitag das Weltsozialforum der Globalisierungskritiker eröffnet wurde.

Kein Shuttlebus und kein Sonderzug fährt dorthin, und so steigert sich der Verkehr zum Chaos. Im Kriechtempo schiebt sich das schwarz-gelbe Taxi vorwärts. Die nachträglich eingebaute Klimaanlage drückt auf den altersschwachen Motor. Draußen belagern Dutzende von Bettlern den Eingang eines hinduistischen Tempels.

Blick nach Davos

Ein Schaufenster bietet westliche Modekleidung an. Die Fahrt geht durch ein graues Armenviertel. Es stinkt nach Fäkalien. Die Pfeiler der Schnellstraße sind vollgepinselt mit Aufrufen zum Widerstand gegen die Globalisierung, den Imperialismus und die Welthandelsorganisation WTO. Das Konferenzgelände kann nicht mehr weit sein.

Tatsächlich: Kleine Plakate kündigen die Großveranstaltung an. Dichtes Gedränge herrscht bei der Eröffnung, Zehntausende aus aller Welt stehen herum, umschwärmt von Moskitos.

Insgesamt 78000 Teilnehmer haben sich eingeschrieben für dieses vierte Weltsozialforum, das bis zum Mittwoch dauert, wenn das Weltwirtschaftsforum in Davos beginnt. Das ist kein Zufall: Die Veranstaltung in Bombay versteht sich als Gegenveranstaltung zum traditionsreichen Treffen der internationalen Wirtschaftselite in der Schweiz.

Zwischen Hochhäusern und Slums

2400 globalisierungskritische Gruppen suchen hier auf dem Areal einer stillgelegten Fabrik Wege in eine gerechtere Welt – in einer unüberblickbaren Zahl von Seminaren und Workshops.

Früher, als in Indien noch mit Fünfjahresplänen die Wirtschaft gelenkte und gegen Importe abgeschottet wurde, stellte man in den riesigen Werkshallen Turbinen her. Als die Regierung in Delhi aber vor mehr als zehn Jahren die Märkte öffnete, musste das Werk schließen. Tausende von Metallarbeitern standen auf der Straße. Im Süden der Stadt wuchsen derweil die Hochhäuser der Großkonzerne in den Himmel.

Bombay, das seit 1996 offiziell Mumbai heißt, ist eine Stadt der krassen Gegensätze. Die Liberalisierung, genauer gesagt das Kapital aus aller Welt, bescherte dem indischen Wirtschaftszentrum einen Boom. Kaum ein internationaler Großkonzern, der in der Metropole am arabischen Meer heute nicht prominent vertreten wäre. Auf Handelsvertretungen folgten Fabriken, Forschungsinstitute, Servicezentren.

Indischer Sturm auf das Silicon Valley

Riesig ist im Land mit der zweitgrößten Bevölkerung auf der Welt nicht nur der Konsummarkt, sondern auch das Angebot an Arbeitskräften. Vor allem in der Informationstechnologie. Für die Inder führt der Weg zum Erfolg über die Beherrschung des Computers. Der Wettbewerb um die Studienplätze ist enorm, der Ausstoß der Fachhochschulen ebenso.

Das Resultat: Hinter einem Drittel der Firmengründungen im kalifornischen Silicon Valley stehen indische Einwanderer. General Electric, British Telecommunications und die Morgan Stanley Bank sind in Indien aktiv geworden, Microsoft und Novartis lassen auf dem Subkontinent forschen, und viele weitere internationale Konzerne erwägen, ihrem Beispiel zu folgen.

Mehr Millionäre als in Manhattan

Die 100 führenden Finanzunternehmen werden der Beratungsfirma Deloitte zufolge in den nächsten fünf Jahren eine Million Stellen nach Indien auslagern, wo eine Fachkraft gegenwärtig ungefähr ein Zehntel dessen verdient, was die Berufskollegen in Zürich und Frankfurt erhalten.

Die Ökonomen bei Goldman Sachs prognostizieren bereits, dass Indien im Jahr 2050 hinter den USA und China die drittgrößte Volkswirtschaft weltweit sein wird. Der Aufschwung in Indien beschränkt sich bislang allerdings weitgehend auf die Städte Bombay, Bangalore, Hyderabad, Delhi und Madras.

Die größte dieser Wohlstandsinseln ist Bombay, das für sich in Anspruch nimmt, mehr Millionäre zu beheimaten als Manhattan. Die Wirtschaft beherrscht seit jeher die Stadt, die einmal als Herzstück des britischen Kolonialreichs galt. Die portugiesische Prinzessin Katharina von Brabant brachte sie 1661 als Mitgift in die Ehe mit dem englischen König CharlesII. ein.

Kronkolonie für 10 Pfund im Monat

Der Lord Chancellor hielt damals gegenüber London fest, dass die britische Krone in den Besitz der Insel Bombay gelangt sei, "die nicht weit von Brasilien entfernt liegt". Die erste Kronkolonie auf dem Subkontinent wurde für die bescheidene Summe von 10 Pfund im Jahr an die East India Company verpachtet. Das britische Handelshaus machte fortan ein Vermögen mit Opium, Seide, Baumwolle, Gewürzen und Tee.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts beherrschte die East India Company nicht nur den Welthandel, sondern auch ein Fünftel der Weltbevölkerung. Bombay, der Hafen an der indischen Westküste, war eine blühende Stadt, die Zuwanderer aus anderen Landesteilen und dem Nahen Osten anzog: Hindus, Muslime, Sikhs, Juden – und Parsen, aus Persien stammende Anhänger von Zarathustra.

Der Reichtum, den diese kleine Religionsgemeinschaft in Bombay erlangte, war ebenso legendär wie ihre Wohltätigkeit. Als Königin Viktoria das Handelsmonopol der East India Company 1864 strich und selbst das Zepter auf dem Subkontinent übernahm, zählte Bombay 800000 Einwohner und konnte sich stolz "Urbs Prima in Indis" nennen, die "führende Stadt Indiens".

212 Millionen Menschen unterernährt

Das ist Bombay bis heute geblieben. Das Wachstum der Stadt scheint nicht zu stoppen zu sein. Die 15 Millionen Einwohner erwirtschaften etwa ein Fünftel des Bruttosozialprodukts des indischen Milliardenvolks. Zwei Drittel von ihnen arbeiten mittlerweile im Dienstleistungssektor.

Bombay ist das Finanzzentrum, der größte Hafen des Landes und das Herz der indischen Filmindustrie, die scherzhaft als Bollywood bezeichnet wird. Die Immobilienpreise im Zentrum zählen zu den höchsten weltweit, hier wird konsumiert wie nirgends in Indien. Und dies alles in einem Land, wo das durchschnittliche Jahreseinkommen nur 450 Dollar beträgt und die Kaufkraft 16 Mal geringer ist als in den USA.

Die Schattenseite dieser Entwicklung präsentiert sich entsprechend düster. Indien ist der Welternährungsorganisation FAO zufolge das Land mit dem größten Ernährungsproblem weltweit. 212 Millionen Menschen besitzen zu wenig, um ihren Kalorienbedarf zu decken. Vier Jahrzehnte der Überregulierung haben eine überbordende und korrupte Bürokratie hinterlassen.

Radikale Hindus und islamistische Anschläge

Kein Wunder, dass sich die Investitionsbereitschaft der Inder in engen Grenzen hält. Die Mehrheit sucht das schnelle Geld. Indische Ökonomen schätzen, dass die Schattenwirtschaft ebenso groß ist wie das offizielle Bruttoinlandsprodukt.

Wie verheerend das Versagen des Staates ist, belegt die völlig unterentwickelte Infrastruktur. So wachsen bei denen, die zu kurz kommen, die Frustration und die Aggression – gerade in Bombay, wo Arme und Reiche auf engstem Raum zusammenleben.

60000 Menschen siedeln hier durchschnittlich auf einem Quadratkilometer, überall werden Konflikte ausgebrütet: Da sind die radikalen Hindu-Nationalisten, die am liebsten die muslimischen Slumbewohner mit Gewalt aus der Stadt treiben würden. Und da sind die islamistischen Untergrundorganisationen, die zurückschlagen mit aller Kraft.

Slum macht 264 Millionen Euro Umsatz

Ein Bombenanschlag im August kostete fast 50 Menschen das Leben. Die Ermittler beschuldigen die Islamische Studentenbewegung Indiens und eine Terrorgruppe aus Pakistan. Das Verhältnis zwischen den beiden Religionsgruppen ist indischen Soziologen zufolge so spannungsgeladen, dass ein nichtiger Anlass eine Explosion auslösen könnte.

Besserung ist nicht in Sicht. Die Hälfte der Bewohner Bombays soll unter Zeltplanen, in Bretterverschlägen und Blechhütten zusammengepfercht wohnen. Wie viele Menschen genau in den Slums hausen, weiß jedoch niemand genau.

Täglich kommen unzählige neue Zuwanderer hinzu, beispielsweise in Dharavi, einer Siedlung, die Habenichtse mit Schutt und Müll einer Bucht im Zentrum der Stadt abgerungen haben. In dem verschachtelten Slum – mit einer Million Einwohner der größte Asiens – ist kein Durchkommen.

Geschäft mit dem Abfall

Die Gassen sind elend eng, verstellt mit allerlei Hausrat und durchflossen von Abwasserkanälen. Hier kreisen die Fliegen und Moskitos. Die Luft ist stickig. Trinkwasser gibt es für zwei oder drei Stunden am Tag. Der Strom ist illegal abgezapft, wie ein Blick auf das Drahtgewirr verrät, das Dharavi durchzieht.

So möchte eigentlich keiner leben – und doch wird fleißig gearbeitet, nach Religionszugehörigkeit getrennt. Hier wird zum Beispiel der Abfall wiederverwertet, der bei der nationalen Fluggesellschaft Air India anfällt.

Schuhmacher, Schneider oder Reifenhersteller machen Dharavi zum größten Kleingewerbezentrum Asiens und tragen zu einem erstaunlichen Umsatz von jährlich 15 Milliarden Rupien bei, umgerechnet etwa 264 Millionen Euro. "Der Slum", sagt der indische Umweltschützer Bittu Saghal, "ist vermutlich besser organisiert als der Rest von Bombay."

(Manuela Kessler, Süddeutsche Zeitung)

 

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