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Die Sozialforen – eine politische Innovation oder eine Bewegung ohne Zukunft

Betrachtungen zur Entwicklung des Weltsozialforums von Joachim Wahl (Rosa-Luxemburg-Stiftung, Sao Paulo / Brasilien)


Aus dem Wald von Lacandona bis Seattle – eine Bewegung globaler Art entsteht

Als im Januar 2004 in Mumbai (Indien) das 4. Weltsozialforum eröffnet wurde, waren zehn Jahre vergangen, seit die Zapatistische Befreiungsarmee (EZLN) den Volksaufstand gegen das Inkrafttreten des Vertrages der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) am 1. Januar 1994 durchführte. Unerwartet und spektakulär war er ein erstes Signal des Protestes, ein Aufschrei der Ärmsten Mexikos. Zwei Jahre später waren es wieder die Zapatisten, die im Urwald von Lacandona in Chiapas des erste Internationale Treffen für Humanismus und gegen Neoliberalismus durchführten.

So wie die sehr spezifische und originelle Form des Protestes der indigenen Völker Mexikos die Geburtsstunde neuer sozialer Bewegungen war, so sind die Massenproteste und Streiks der Gewerkschaft der Öffentlichen Dienste in Frankreich im Dezember 1995, die breite Unterstützung der Bevölkerung fanden, Ausdruck für einen politischen Klimawandel: Neoliberale Praktiken und Politik werden zunehmend abgelehnt. In die Reihe dieser Proteste sind die Streiks in Südkorea im Januar 1997 und selbst der Kampf der US-Gewerkschaften, Studenten und Umweltschützer und die grossen Streiks gegen die UPS, General Motors und Boeing einzuordnen.

Der sich formierende Widerstand erwuchs in Folge der Veränderungen , die sich in der Welt vollzogen. Die zehn Jahre der Politik des Neoliberalismus nach dem Fall der Berliner Mauer schufen neue Bedingungen des sozialen und politischen Kampfes. Allerdings war der Widerstand fragmentarisch, auch als Folge des Zusammenbruchs des Realsozialismus, der allgemeinen Schwäche der Linken und der Krise der Sozialdemokratie. Zu Ende des XX. Jahrhunderts überlagerten sich Proteste der alten traditionellen Bewegungen (bes. der Gewerkschaften) mit denen neuer Formen: die „People´s Power 21“, das „Andere Davos“ und eben die Konferenz der Zapatisten gegen den Neoliberalismus.

Neoliberale Globalisierung beschleunigt nicht nur die Bewegung des Kapitals, sondern ruft auch eine stärkere Verknüpfung globaler sozialer Prozesse hervor. Darin liegt die soziale Wurzel der Fragmentierung der Gesellschaft, des Individualismus und des Konsumgeistes. Medien und Internet bringen eine andere Art Kultur, eine andere Art Weltverständnis und andere Arten der Organisation der Arbeit hervor.

Mit der Verschärfung der globalen Probleme werden diese in bestimmten Schichten der Gesellschaft unterschiedlich widergespiegelt, nimmt ihr Erkennen die unterschiedlichsten Formen an. Umweltfragen, Menschenrechte, Fragen der Demokratie, die Auseinandersetzung mit mafiösen Aktivitäten, die Kontrolle der Finanzmärkte und der Finanzspekulation werden zunehmend als Probleme verstanden, die nur global angegangen werden können. Repräsentanten sind politische Akteure mit einer neuen Identität.

Es entsteht eine neue Dynamik internationaler Artikulation. Internationale Kampagnen werden organisiert. Wesentliche Tagungen internationaler Organisationen wie der Weltbank werden nicht nur von Treffen von NGO´s begleitet, sondern auch von Gruppen genutzt, die ihren Protest gegen ihre Politik zum Ausdruck bringen. Greenpeace und Amnesty International, neben anderen, sind wesentliche Akteure dieser Proteste. Internationale Netze werden aufgebaut, um die Aktivitäten transnationaler Unternehmen unter Beobachtung zu nehmen.

Die Finanzkrisen in Asien 1997 und ihrer Ausweitung 1998 auf Russland und Brasilien bringen die Grenzen der vom Neoliberalismus propagierten Prosperität zum Ausdruck. Die Absicht, einen Multilateralen Vertrag für Investitionen (AMI) durchzusetzen, wurde verhindert. Noch vor Seattle im November 1999 wurden weltweit Kampagnen und Proteste organisiert, die die von den Zapatisten initiierte Bewegung zu einer globalen machten. Seattle ist ihr vorläufiger Kulminationspunkt.

Der Protest gegen die WTO-Tagung war eine Art Katalysator. Aller Welt wurde vorgeführt, dass es sich um Aktionen einer sich festigenden neuen Bewegung handelt, die nicht nur protestiert, sondern die neoliberale Politik grundsätzlich hinterfragt.

Charakteristisch ist der Einschluss vieler junger Menschen in die Auseinandersetzung mit neoliberaler Politik. Dadurch erhält der Prozess neue Dynamik, die bewirkt, dass ältere kritische Sektoren sich anschließen, ihre Erfahrungen einbringen und die Bewegung eine größere Breite erreicht. Die jüngere Generation hat den Vorteil, dass sie nicht mit Niederlagen belastet ist und aus eigener Erfahrung sich in die Auseinandersetzung einschaltet.

Die Ereignissen der Jahre 1989 -1991 des XX. Jahrhundert verlieren anscheinend an Wirkung. Andere Akteure betreten die politische Bühne. Enttäuscht von den Versprechungen der Neoliberalen, wenden sie sich den konkreten Konsequenzen der Kommerzialisierung des Lebens zu und protestieren gegen die Privatisierung des Wassers, des Landes, der Volksbildung und überhaupt des gesamten Lebens.

Sie verkörpern antikapitalistisches Denken neuer Art, bes. in der Suche nach Alternativen.

Mit Überlegungen dieser Art gekoppelt ist die Suche nach neuen Wegen für politische Experimente und der Diskussion und kritischen Reflexion für neue internationalistische Denkansätze. Neue Namen rücken in der internationalen Debatte in den Vordergrund: Walden Bello, Francois Houtart, Naomi Klein, José Bové. Noam Chomsky, Tariq Ali, Ana Esther Cecena, Emir Sader, Antonio Negri, Arundhati Roy, Immanuel Wallerstein u.a. In Europa wurde das politische Denken in sozialen Bewegungen bes. auch durch den Franzosen Pierre Bourdieu beeinflusst.

International ist ein Anwachsen der Bewegung feststellbar. Im Jahre 1999 kam es in Zürich zum ersten Treffen „Ein anderes Davos“, das parallel zum Weltwirtschaftsforum durchgeführt wurde. Organisatoren sind ATTAC, das Forum für Alternativen, die Koordinierung gegen AMI u.a. Im Juni 1999 wird das Internationale Treffen „ Eine andere Welt ist möglich“ durchgeführt.

Während des Alternativtreffens in Genf wurde der Vorschlag unterbreitet, ein Weltsozialforum in Porto Alegre (Brasilien) als Gegenpol zum Davos-Treffen duchzuführen.

Die entstehende globale Bewegung ist Ergebnis dieser neuen politischen Praktiken, die sich in internationalen Protesten gegen internationale Institutionen , in lokalen und regionalen Aktivitäten und in konkreten Widerstandsbewegungen manifestieren. Es entstehen Netzwerke, die sich horizontal organisieren und beginnen, eine gemeinsame Identität zu suchen.

Die Ereignisse in Seattle im November 1999 beschleunigten diesen Prozess. 1.449 Organisationen aus 89 Ländern unterzeichneten den Appell für ein Moratorium in den Verhandlungen der WTO, diesem neue Rechte im internationalen Handel und im Vertrag über Rechte intellektuellen Eigentums (TRIPS) einzuräumen. Mit Seattle wurde ein Zyklus von Protesten in Prag, Genf, Göteburg, Washington und an anderen Orten eingeleitet.

Die Aufgabe, sehr unterschiedliche Akteure des Widerstandes zusammenzubringen, ist nicht einfach.

Das Weltsozialforum I in Porto Alegre – eine politische Innovation

Das erste Weltsozialforum fand im Januar 2001 in Porto Alegre statt. Verschiedene Bewegungen und Netze kamen zusammen, um sich über die neue Lage zu verständigen, Alternativen zu erarbeiten und um Aktionen und Proteste zu koordinieren. In Porto Alegre wurde neoliberales Denken in Frage gestellt und erklärt: „Eine andere Welt ist möglich!“

Die Erwartungen in Porto Alegre wurden übertroffen. Nicht nur, dass sich während des Forums mehr als 20.000 Menschen trafen, es entwickelte sich in den selbstorganisierten Seminaren und Debatten ein neues politisches internationales Klima, in dem Gemeinsamkeiten im Widerstand gegen den Neoliberalismus festgestellt wurden und begonnen wurde, eine neue Identität der globalen Bewegung zu schaffen. Die Stadt Porto Alegre selbst bot genau den Raum, den dieses Forum benötigte.

In der Stadt, in der die PT seit 1990 den Bürgermeister stellt, wurden solide Erfahrungen in der Realisierung konkreter Alternativen gemacht: Der Bürgerhaushalt (partizipatives Budget), der Kampf gegen genmanipulierte Produkte, Bildung von Kooperativen der MST auf der Basis solidarischer Wirtschaft sind Markenzeichen dieser Stadt.

Mit dem ersten Weltsozialforum erhielten die unterschiedlichsten Bewegungen und Netze einen politischen Raum zur Debatte und Mobilisierung. Unterschiedlichste Initiativen koexistierten, artikulierten ihre Vorstellungen, ohne sich zu entzweien und empfanden es als Bereicherung, der Vielfalt des Widerstandes und den  unterschiedlichsten Erfahrungen Ausdruck verleihen zu können.

Mit dem WSF in Porto Alegre wurde eine politische Innovation geschaffen, die die weltweiten Proteste zusammenfasst und erste Ansätze alternativer Lösungen anbietet.

Die Ergebnisse des ersten WSF ermutigten das brasilianische Orgkomitee zur Einberufung und Schaffung des Internationalen Rates (IR), dessen erste Tagung im Juni 2001 in Sao Paulo stattfand und an der mehr als 60 Vertreter von NGO´s, Netzwerken und sozialen Bewegungen von vier Kontinenten teilnahmen. Der IR stellte sich als wichtigstes Ziel, den Prozess des WSF zu konsolidieren. Der IR kam zum Schluss, dass das WSF nicht nur schlechthin ein Ereignis ist, sondern dass es als Prozess betrachtet werden kann.

Die Tagung nahm eine „Prinzipiencharta“ an, in der das WSF als „offener Raum der Treffen“ charakterisiert wird, d.h. es sich nicht um eine Organisation oder Institution handelt. Politisch soll es „einen Raum für Organisationen und soziale Bewegungen der Zivilgesellschaft darstellen, die sich gegen den Neoliberalismus und gegen die Weltherrschaft des Kapitals und gegen jede Form des Imperialismus wenden.“ Niemand sei auch berechtigt, im Namen des Forums zu sprechen. Es werde auch keine Beschlüsse fassen. In der Charta wird weiter betont, dass das Forum plural, diversifiziert, nicht konfessionell, nicht regierungsamtlich und keine Parteiinstanz ist. In der Debatte zum Thema Parteien überwiegt in den Bewegungen und Netzen die Meinung, dass sich linke Parteien in einer Existenzkrise befinden und viele Bewegungen Schwierigkeiten haben, sich bes. mit Parteien einzulassen, die bereit sind, den Status quo zu akzeptieren. Sie sind jedoch aufgerufen, sich mit Personen, Regierungsvertretern oder Parlamentariern am Forumprozess zu beteiligen.

Aber während des Forums wurde auch deutlich, dass es große Unterschiede in der Art und Weise und dem Inhalt der Kritik am bestehenden System und der Erarbeitung von Alternativen gibt. Einerseits gab es dort die Berichte der Opfer des Neoliberalismus, andererseits umfassende Systemkritik. Diese reicht von der Forderung nach „Humanisierung“ des Marktes bis hin zu seiner grundsätzlichen Veränderung.

Alles das vollzog sich erstmalig unter dem großen Schirm eines kolektiven Bewusstseins, dass „eine andere Welt möglich ist“. Es war ein historischer Sieg über den ökonomischen Determinismus des Neoliberalismus.

Positionierung gegen Krieg, für Frieden – Porto Alegre II

Dem zweiten Treffen im Januar 2002 kommt große Bedeutung zu, weil sich nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 mit dem Versuch der Bush-Administration, jegliche Opposition zu kriminalisieren, zeigte, dass die globale Bewegung nicht angehalten werden konnte. Es gelang, das Thema Kampf gegen den Krieg und für die Lösung von Konflikten zum zentralen Thema zu machen

Das Forum verzeichnete eine stärkere Beteiligung als im Jahr zuvor (ca. 60.000 Teilnehmer, 5.000 Organisationen). Besonders die Zahl der Jugendlichen erhöhte sich expressiv (11.000 im Jugendcamp), wie auch die Zahl der teilnehmenden Lohnarbeiter.

Charakteristisch für das zweite Treffen war seine wachsende Diversität und Internationalisierung. Vereinbart wurde ein Aktionskalender, die Durchführung von regionalen und kontinentalen Treffen und die Debatten während des Forums nahmen einen stärkeren politischen Charakter an (Organisation von Kampagnen gegen die ALCA, die WTO, die Debatte zur Lösung bewaffneter Konflikte in Kolumbien, Palästina).

Porto Alegre III – Politikevent „Weltsozialforum“

Mit einer Beteiligung von ca. 100.000 Menschen erreichte das 3. WSF Anfang 2003 in Porto Alegre einen vorläufigen Höhepunkt. War die starke Beteiligung ein großer Schritt nach vorn, so zeigte sich, dass die Debatten weiter politisiert wurden. Die internationale Entwicklung, vor allem die Tendenz zur Militarisierung der internationalen Beziehungen durch die USA-Administration, standen im Mittelpunkt. Stärker pronunziert wurde die Kritik am neoliberalen Modell. Porto Alegre III trug zu dessen weiterer Delegitimierung bei.

Das Treffen war ein Fortschritt in der tieferen Vernetzung national oder international tätiger Organisationen und Bewegungen. In den Vordergrund rückte die Absicht, das Monopol des neoliberalen Denkens durch die Erarbeitung von Alternativen in Frage zu stellen.

Definitiv erreichte das Forum trotz seines Ausmaßes, seiner Diversität und seines Eventcharakters eine Verbindung zwischen dem Kampf gegen den Neoliberalismus und dem Kampf gegen Militarisierung und Imperialismus. Der „militärischen Globalisierung“ – wie es in Porto Alegre genannt wurde – wurde die Debatte um Alternativen entgegeggesetzt. Die Mobilisierung gegen den Krieg und das Imperium setzte sich während der Europäischen und Asiatischen Foren fort.

Der 15. Februar 2003 gestaltete sich auf Initiative des WSF zu einer machtvollen Willensäußerung breiter Schichten vieler Länder gegen den Krieg.

Auch während des III. Forums setzte sich die Debatte der Beziehung zwischen dem Sozialen und Politischen fort. Nicht alle Bewegungen akzeptieren die Präsenz offizieller Regierungs- und Parteivertreter. Doch die Entwicklung linker Alternativen in Lateinamerika machte deutlich, dass eine Umorientierung notwendig wurde. Die Niederlage der Putschisten gegen Hugo Chavez in Venezuela, der deutliche Aufschwung der Volksbewegung in Bolivien und ihre Unterstützung für die Kandidatur Evo Morales, der Wahlsieg von Lucio Gutierrez in Ecuador, der durch eine breite Volksbewegung zustande kam und vor allem der Sieg Lulas in Brasilien zeigen den engen Zusammenhang zwischen beiden Polen:

Demokratische Bewegungen widersetzen sich der Ausweitung des sich selbst regulierenden Marktes. In verschiedenen Formen der politischen und sozialen Demokratisierung und der Schaffung von Netzwerken einer kollektiven Absicherung der Bevölkerung manifestiert sich der Widerstand gegen neoliberale Politik.

So war die Anwesenheit Lulas auf dem WSF in Porto Alegre eher Ausdruck einer sich neu entwickelnden Beziehung zwischen Regierung und Bewegung, was allerdings nicht von allen so gesehen wurde (Naomi Klein: „WSF 2003 war das Forum grosser Namen“). Der politische Dialog während des Forums kann als einer der Schwerpunkt des Forums eingeschätzt werden, obwohl die Beziehung zwischen dem Politischen und Sozialen nach wie vor sich polemisch entwickeln wird.

Als problematisch erwies sich aber auch, die Konzentration des Forums vor allem auf Lateinamerika und Europa. Die Präsenz asiatischer und afrikanischer Vertreter war nicht ausreichend, um von einer schon vollzogenen Mundialisierung des Forums zu sprechen. Eine Ausweitung des Forums und seiner Grundanliegen machte sich erforderlich. Eingeschlagen wurde außerdem der Weg, verstärkt kontinentale und regionale Foren durchzuführen.

Ein wichtiger Schritt, beschlossen vom IR auf der Tagung im April 2002 in Barcelona, war der Vorschlag, thematische Foren durchzuführen. Thematische Foren fanden in späterer Folge in Bamako (Mali), Ramallah (Palästina) und Buenos Aires (Argentinien) im Verlaufe des Jahres 2002 statt.

Das erste europäische Sozialforum in Florenz im November 2002 bestätigte, dass in Europa eine neue junge Generation herangewachsen ist, die sich als mehrheitsfähig und pluralistisch links erweist. Herausgefordert durch die neoliberale Entwicklung in der Europäischen Union nahm das Forums die Herausforderung an, sich in den Prozess der Entwicklung der EU einzumischen.

Weitere Schritte zur Mundialisierung des Forums waren die Durchführung des 2. Afrikaforums in Addis-Abeba, des Sozialforums Asiens in Hyderabad (Indien) und des 2. Panamazonischen Forums in Belém (Brasilien).

So konnte der IR auf seiner Tagung im Januar 2003 in Porto Alegre feststellen, dass sich eine umfassendere Internationalisierung entwickelt hatte, das Forum pluraler wurde und sich neue Akteure eingeschaltet haben.

Die Rolle des Internationalen Rates (IR)

Mit dem Einschluss neuer Akteure und der Verbreiterung der Themenpalette entstanden aber auch neue Probleme und Spannungen im Forumprozess.

Ein erstes Problem war die Auswahl des nächsten Landes für die Durchführung das IV. WSF. Schließlich wurde entschieden, das IV. Forum in Indien duchzuführen und 2005 nach Porto Alegre zurückzukehren. Vor allem brasilianische und lateinamerikanische Vertreter im IR befürchteten, dass sowohl Tempo- wie auch Inhaltverlust eintreten würden, wenn das Forum aus Porto Alegre weggeht.

Konfrontiert mit den Kosten, die die Durchführung eines Forums erfordert, wurde die realistische Idee geboren, das WSF nicht mehr jährlich durchzuführen, sondern zu einem Zweijahresrhythmus überzugehen. Zwischendurch haben kontinentale und regionale Foren Platz, was aber keineswegs eine Hierarchisierung der einzelnen Foren ergeben soll. Weiteres Prinzip ist die Horizontalität des Forumprozesses, d.h. es gibt keine „Vorbereitungsforen“, sondern sie sind alle als gleichrangig zu betrachten.

Als Herausforderung wird im IR auch angesehen, dass sich das WSF zu einem Megaevent entwickelt hat, worunter die inhaltliche Zielstellung Schaden nehmen kann. Um dieser inhaltlichen Abwertung des Forums zu begegnen, soll mehr Wert auf die Durchführung selbstverwalteter Veranstaltungen gelegt werden, sodass diese Aktivitäten im ausgeglichenen Verhältnis zu den von den Organisatoren vorgesehenen Großveranstaltungen stehen.

Eine besondere Herausforderung besteht in der Ausübung der „Macht“ oder der „Führung“ im Forumprozess. Im IR kam es zu einer Auseinandersetzung um die Kompetenzen des Rates, einzelner teilnehmenden Organisationen und einer bestimmten Institutionalisierung. Verschärft wurde diese Frage während der Tagung des IR im Sommer 2003 in Miami aufgeworfen, die für alle frustrierend war, da die Auseinandersetzung um die Rolle des IR sich verschärfte.

Einzelne Organisationen befürworten eine Erweiterung des IR bis auf 2.000 Mitglieder, d.h. dass alle am Forumprozess beteiligten Organisationen Vertreter entsenden können. Andere präferieren eine Einschränkung der Teilnehmer und wollen Grundregeln (Verbindlichkeit von Beschlüssen, Stimmrecht) einführen. Vereinbart wurde, dass der IR für alle offen steht, die die „Charta der Prinzipien“ akzeptieren. Orgkomitees werden von den Ländern gebildet, in denen die Foren stattfinden.

Europäische Vertreter fordern eine größere Transparenz, Informationen über die Zusammensetzung des Rates und seine Struktur.

Das Sekretariat des Forums verbleibt weiter in den Händen der acht brasilianischen Organsitionen, die das brasilianische Orgkomitee bilden und das unterstützend für den Forumprozess tätig ist. Es wird nach und nach internationalisiert.

Dem IR steht nicht das Recht zu, Erklärungen abzugeben. In keiner Weise kann er sich als „Direktorat“ der internationalen Bewegung betrachten. Das Forum bleibt weiter ein horizontaler Raum und wird keine hierarchische Struktur annehmen. Gerechtfertigt sehen sich diejenigen, die nach den Massenprotesten vom 15. Februar 2003 davon ausgehen, dass traditionelle Formen der Realisierung von Aktionen nicht erforderlich sind.

Um die Koordinierung innerhalb des IR zu erleichtern, wurde in Miami beschlossen, Arbeitskommissionen auf sechs Gebieten zu bilden: Strategie, Methodologie, Inhalt, Kommunikation, Finanzen und Erweiterung des Forumprozesses (.z.B. Durchführung eines Forums in den USA).  

Das IV. Weltsozialforum in Mumbai (Indien)

Arundhati Roy im Interview nach Abschluss des IV. WSF in Mumbai:

„Wenn wir uns darauf beschränken, eine alte Übung zu wiederholen, werden wir uns nur ärgern. Das Forum hat bisher sehr gute Sachen gemacht. Der Dialog, den es förderte, stellt ein außerordentliches politisches Ereignis dar. Aber wir müssen offen sein, für das, was neu ist, offen gegenüber den Herausforderungen, die jeden Moment neu entstehen.“

Nach Mumbai ist deutlich, dass viele Kommentare sich in diese Richtung bewegen: Das Forum trägt das Risiko in sich, zu einem blossen politischen Festival zu werden, was ihm seine Fähigkeit nehmen würde, effektiv für eine andere Welt einzutreten.

Diese Einschätzung generell zum Forumprozess schmälert in keiner Weise den Erfolg des IV. WSF in Mumbai.

Auch Arundhati Roy sieht das so, obwohl sie sich ursprünglich gegen die Durchführung des Forums in Indien geäußert hatte.

Nach Porto Alegre brachte das IV. Forum neue Aspekte in den Gesamtprozess ein.

  • Die geografische Ausweitung auf den asiatischen Kontinent war ein Fortschritt, da die verschiedenartigsten Akteure aus Indien, Pakistan, Japan, Südkorea, Indonesien usw. in Erscheinung traten. Damit wurden andere Sichtweisen, andere Modalitäten und Formen der Auseinandersetzung mit der neoliberalen Gegenwart deutlich. Andere soziale und ethnische Aspekte fanden Zugang zur weltweiten Bewegung.

  • Das Forum – anders als in Brasilien – wurde von Bevölkerungsschichten angenommen und genutzt, um ihre soziale und politische Rechtlosigkeit zu zeigen, wie es das Beispiel der dalits – der „Unantastbaren“ – zeigt. Für sie war es offensichtlich bedeutsam, teilzunehmen und in der Öffentlichkeit ihre soziale Ausgrenzung und Diskriminierung deulich zu machen. (Selbst Teilnehmer aus Brasilien, die das Elend des eigenen Landes kennen, sprachen von einem „Kulturschock“ angesichts der riesigen Armut der indischen Bevölkerung.

  • Das, was in Porto Alegre nicht erreicht wurde, wurde in Mumbai realisiert: Die Ausgeschlossenen dieser Gesellschaft zeigten ihr Gesicht und erhoben ihre Stimme. Beachtlich war die Beteiligung breiter Volksgruppen. Das Forum gestaltete sich weniger elitär und breiter in seiner sozialen Zusammensetzung.

  • In Mumbai zeigte sich die große Vielfalt der sozialen Bewegung Indiens und asiatischer Länder. Beeindruckend die Präsenz vieler Frauen, die auf ihre Rechtlosigkeit aufmerksam machten und wie auch die dalits des indische Kastensystem anprangerten. Wenn es Ziel war, das Forum populärer zu machen, es nach Asien zu bringen, dann wurde das mit Mumbai erreicht.

Jetzt erscheint es angebracht, darüber nachzudenken, wie diese soziale Präsenz auch auf dem kommenden Forum erreicht werden kann. Nachdenken über Methodologie, weitere Entwicklung des Forums und seine Funktionsweise werden gefragt sein. Die einfache Fragestellung ist, wie mehr Partizipation in Effektivität der Bewegungen und verwertbare Lösungen umgesetzt werden kann. Buntheit und Vielfalt des Forums erfodern aber auch, die „Weltverschiedenartigkeit“ gedanklich zu erfassen und in der Methodologie des Forums sichtbar und wirksam zu machen. Möglicherweise ist Mumbai der Ansatz zur Entwicklung einer neuen globalen politischen Kultur, die ihren besonderen Ausdruck in Formen des Widerstandes gegen den Krieg und der Entwicklung der Friedensbewegung findet.

Somit hat das Forum einen wesentlichen Schritt in Richtung Mundialisierung (Globalisierung) unternommen, wobei aus diesem Prozess noch mehr als eine Milliarde Menschen in China ausgeklammert sind.

Selbst die „Wiederholung“ schon bekannter Themen war in Mumbai kein Nachteil, da durch die Vielfalt neuer Akteure in die Debatte neue Akzente eingebracht wurden.

Allerdings – und darauf verweist Roy – sind weitergehende Überlegungen erforderlich. Denn mit dem Forum ist ein weltweit beachteter Akteur auf die politische Bühne getreten, dessen reale Ergebnisse sich im alltäglichen Leben, in der Weltpolitik oder in den internationalen Institutionen nicht widerspiegeln.

Nach Mumbai ergeben sich neue Herausforderungen. Mumbai war ein wichtiger Schritt für die Einbeziehung eines riesigen Kontinentes, der von Kriegen heimgesucht ist, auf dem fundamentalistische Kräfte gravierende Probleme schaffen und religiöse Auseinandersetzungen die soziale Lage der Bevölkerung außerordentlich verschärfen. Indien mit einer neoliberal geprägten Regierung, die engen Schulterschluss zu den USA und Israel sucht, hat neue Akzente gesetzt. Vor allem erscheint erreicht worden zu sein, dass seine sehr differenzierten sozialen Bewegungen während der Vorbereitungszeit aufeinander zugegangen sind und sich enger zusammengeschlossen haben. Das in Mumbai stattfindende Gegenforum Mumbai Resistence hat aber auch die Kompliziertheit der Lage im linken oder antineoliberalen Lager gezeigt.

Von Porto Alegre bis Mumbai ist die Multipolarität der Bewegung erheblich ausgeweitet worden: Zur westlich-lateinamerikanischen Kultur ist zumindest ein Teil der asiatischen Kultur hinzugekommen.

Wohin geht das Weltsozialforum, was bringt Porto Alegre V ?

Eine kurze Zusammenfassung:

  • Das WSF ist ein Raum des Dialogs – auch des kontroversen -, aber auch ein Treffen des Austauschs von Erfahrungen. In diesem Raum treffen sich verschiedenartige Bewegungen, die ihre Aktivitäten abstimmen wollen und koordinieren. Es ist keine Weltorganisation, keine „Überpartei“, die bestimmt, was gemacht wird.  

  • Das Forum wird von der Einheit in seiner Vielfalt bestimmt. Die Vielfalt ist seine Kraft, die gestärkt und gepflegt werden muss. In ihm vereinen sich vielzählige Bewegungen und Organisationen, die sich in der Auseinandersetzung mit den Folgen neoliberaler Politik zusammengefunden haben. Ihre politische und ideologische Orientierung ist unterschiedlich, jedoch stehen diese partikulären Interessen nicht im Vordergrund.

  • Das Forum ist autonom. Es unterwirft sich keinen politischen Interessen, ist regierungsunabhängig und nicht parteipolitisch orientiert. Es bewahrt seine Unabhängigkeit als Bewegung, die sich global orientiert, aber national, regional und lokal tätig ist.

  • Das Forum ist ein Prozess und kein Event. Es ist Teil einer umfassenden Bewegung, die durch die Verbreiterung der Forumsbewegung versucht, diesen in einen globalen Prozess zu verwandeln. Das Forum charakterisiert einen neuen Internationalismus, der sich gegen die neoliberale Globalisierung richtet. Es versteht sich als Netz von Bewegungen und Organisationen, die ihren Widerstand gemeinsam organisieren.

  • Politisch innovativ, schafft das Forum andere Horizonte des Denkens. Gegen die Merkantilisierung des gesamten Lebens stellt es die Werte des Lebens, der Demokratie und der Freiheit. Es ist ein kollektiver Lernprozess, der durch die Foren angeregt wird, wie die Herausforderungen dieser Welt bewältigt und gelöst werden können.

  • Das Forum ist in seiner Struktur horizontal und lehnt eine Hierarchisierung ab. Alle Beteiligten sind gleichberechtigt. Der Internationale Rat und die Organisationskomitees funktionieren als Mittler. Sie geben keine Erklärungen ab stimulieren aber gemeinsame Aktionen wie die des 15. Februar 2003.

Im Kontext der Frage zur Zukunft des WSF sind diese grundsätzlichen Schlussfolgerungen für eine Annäherung an Zukünftiges wesentlich. Sie sind eine Art gegenwärtige Zusammenfassung des Erreichten und Geschaffenen.

Sie können aber gleichzeitig Ausgangspunkt für Zukünftiges sein, sozusagen eine Art Sprungbrett in andere Höhen.

Nicht wenige Stimmen, nicht nur im Lager der anderen, sprechen von „Signalen der Erschöpfung“ des Forumgedankens. Zugestanden wird, dass das Forum beachtliche Resultate erzielt hat. Nicht nur mit der Zusammenführung der Aktionen des „progressiven Lagers“, sondern auch in der Abschwächung der Dominanz neoliberaler Hegemonie. Zugestanden wird, dass es sich in einen Gegenpol neoliberaler Politik verwandelt hat und erreichte, dass die sozialen Probleme aller Welt deutlich gemacht wurden. Aber es fehlt dem WSF ein Aktionsprogramm und ein Angebot konkreter Alternativen. Mehr noch, es fehlt die Fähigkeit, Initiativen zu materialisieren.  

Porto Alegre 2005 steht vor der Aufgabe, diese Problemstellung zu lösen. Und nicht nur Porto Alegre 2005, sondern alle Initiativen und Foren, die im Jahre 2004 sich noch abspielen werden.

Die Antworten, die auf diese Herausforderung gegeben werden, sind sehr differenziert, stimmen aber in einem überein: Das Forum hat seine Möglichkeiten keineswegs erschöpft, steht aber vor einer weitaus größeren Herausforderung als im Jahre 2001.

Welches sind Vorstellungen, die dazu vorhanden sind?

  • Vorgeschlagen wird die Ausdehnung und Verstärkung der Konsultation zwischen den Kontinenten, zwischen existierenden Netzen und Bewegungen. Das bedeutet eine Verstärkung der Partizipation und der „Sammlung“ unterschiedlichster Vorschläge für alternative Ansätze. Hier muss jeder Versuch, Autoritarismus auszuüben, abgewehrt und verhindert werden. Die Debatte muss von unten nach oben wachsen und allgemein akzeptiert werden.

  • Nachgedacht werden muss, wie den neuen Akteuren der Weg in die internationale Politik geöffnet werden kann. Müssen Versuche internationaler Organisationen oder Regierungen abgewehrt werden, wenn sie Vertreter von NGO´s oder sozialer Bewegungen zu Beratungen, Konferenzen etc. einladen und zulassen? Oder muss diese Möglichkeit der Einflussnahme genutzt werden, um so den Druck, der von den Bewegungen ausgeht, in diesen Gremium wirksam zu machen?

  • In Mumbai verstärkte sich die Beteiligung sozial ausgeschlossener Gruppen. Künftige Foren stehen vor der Frage, wie dieses Problem – auch finanziell – zu lösen ist. Es kann nicht nur Aufgabe von „aufgeklärten“ Menschen sein, sich für die Belange dieser Schichten einzusetzen. Sie selbst müssen beteiligt sein. Erweiterung der Teilnehmer am Forumprozess über die Grenzen des Begriffs der Zivilgesellschaft hinaus.

  • Entgegengewirkt werden muss den Versuchen des Systems, sich die Sprache und Losungen des Forums zu eigen zu machen (Kampf gegen die Armut), um deren Sinn zu verdrehen.

  • Mit den Erkenntnissen vergangener Foren, vor allem Front gegen die Militarisierung des Lebens und gegen den Krieg zu machen, wird für kommende Foren die Frage nach konkreten Aktionen und Maßnahmen stehen.

  • Nicht wenige Teilnehmer am Forumprozess sprechen im Rahmen des Forums von der Wiederbelebung einer Utopie, die sich gegen Auffassungen des „Endes der Geschichte“ (Fukuyama) und des „Zusammenstosses der Zivilisationen“ (Huntington) richtet und die die Frage nach der Gesellschaft, die wir wollen, beantwortet.

  • Verständigung über die Rolle des IR, der seinem Charakter nach politischer werden müsste, substatielle politische Diskussionen führt und alternative Vorschläge formuliert.

  • Verstärkung der Tätigkeit regionaler und nationaler Foren, die in geeigneter Weise mit thematischen Foren verbunden werden, die in der Lage sind sowohl sektoriale wie auch globale Alternativen zu formulieren.

  • In Verbindung mit diesen Vorstellungen entsteht die Herausforderung, eine breite Mobilisierung von Millionen Menschen zu erreichen, sie – wie zum 15. Februar 2003 – in globale Aktionen einzubeziehen.

  • Alle Herausforderungen haben lokale und globale Aspekte. Für das WSF ist Voraussetzung, dass das Globale das Lokale erfordert und das Lokale mit dem Globalen verbunden ist. Die lokale Aktion, die Diversität der Aktionen und die Beständigkeit ihrer Tätigkeit ist eine Herausforderung für die Herrschenden.

  • Wichtiger Ausgangspunkt ist, zu wissen, was bisher gedacht und erarbeitet wurde. Das sollte massiv, außerhalb des vom Forum Erreichten bekannt gemacht werden. Erarbeitung von Basisvorschlägen, die allen zugänglich sind, und die schließlich weltweit eine Art „Denken von Porto Alegre“ ergeben.

Ein bestimmter Zyklus der Entwicklung des Forumprozesses ist abgeschlossen. Nach Mumbai steht die Konkretisierung von Alternativen zur neoliberalen globalen Welt im Vordergrund.

 

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