1. Russisches Sozialforum
Zum 1. Russischen Sozialforum 2005, Moskau 16. bis 17. April 2005
I. Überblick
Schon dass das 1. Russische Sozialforum stattfinden konnte, ist ein keineswegs zu unterschätzender Erfolg: Bis vor kurzem war es - trotz verschiedener Sozialforen in Moskau, Sibirien und im Nicht-Schwarzerde-Gebiet, trotz eines Forums sozialer Initiativen und der Foren „Zukunft linker Kräfte“ in Russland nicht denkbar, dass die politischen Kontrahenten der verschiedenen linken Strömungen einander zuhörten, geschweige denn nach Gemeinsamkeiten suchten. Die Russlandweiten Proteste gegen das Gesetz 122 seit Mitte 2004 und insbesondere vom Januar/Februar 2005 haben das Bedürfnis nach Austausch über die gesellschaftspolitische Situation, gemeinsame Strukturen und Aktionen hervorgebracht. Daher wurde auch mehrfach der Regierung und insbesondere dem Staatspräsidenten Putin dafür gedankt, „dass sie uns alle zusammengebracht haben“.
Die materielle Armut von vielen politisch Aktiven, der Mangel an Informations- und Kommunikationstechnik und daher auch an Kontakten und Adressen haben die Organisation des Sozialforums extrem erschwert. Es ist daher sehr wohl eine enorme Leistung, dass etwa 1000 Menschen sehr unterschiedlicher Spektren - von den Anarchisten, über verschiedene kommunistische Zusammenhänge, Grüne, bis hin zu linken Sozialdemokraten und Linksliberalen - aus mehr als 40 Regionen anreisten. 108 Organisationen haben das Forum unterstützt, wobei die starke gewerkschaftliche Präsens bemerkenswert ist. Die Berufe und sozialen Bedingungen der Forumsteilnehmer/innen sind außerordentlich vielfältig: vom Bergarbeiter bis zur Künstlerin, von der Armen bis hin zum „Gewinner der Umbrüche“. Ebenso vielfältig waren die Themen der Veranstaltungen, die in den Räumen der Moskauer Universität für Humanwissenschaften stattfanden: Probleme der Arbeiterbewegung, Effektivität von Protestaktionen, Jugendliche im Kampf um soziale und politische Rechte, Fragen des Marxismus, Alternativen zur Bildungsreform und zur herrschenden Sozialpolitik, Aktionen gegen die Privatisierung der Wälder, der Krieg in Tschetschenien, die globalisierungskritische Bewegung, Esperanto und vieles mehr. Im Rahmen des Sozialforum tagten ein Bildungs- und ein Jugendforum.
Dass die Diskussionen über Proteste und Alternativen (Alters)Armut, Bildung und die kommunale Wohnungswirtschaft zu besonderen Schwerpunkten hatten, ist wiederum mit dem Gesetz 122 erklärbar: Es sieht zuerst die Streichung der unentgeltlichen Nutzung öffentlicher Transportmittel für Veteranen des 2. Weltkrieges vor. Die offiziell genannte Preissteigerung für Leistungen der kommunalen Wohnungswirtschaft betrug allein im ersten Quartal 2005 durchschnittlich 26,7%. Ihnen sollen in den nächsten Monaten weitere 40-50% folgen! Mehr als 20% der abhängig Beschäftigten erhalten einen Lohn, der unter dem Existenzminimum liegt. Die Mehrheit von ihnen sind Ärzte, Lehrer/innen, Kunst- und Kulturschaffende. 40% der Beschäftigten sind arm, 20% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, die viel zu niedrig angesetzt ist.
Die meisten Veranstaltungen, insbesondere im Plenum“ offenbarten das Bemühen um eine echte Forums-Kultur: Es sollten so viel wie möglich Menschen reden können, es gab Kultureinlagen, Witz, eine ausgesprochen attraktive Forumszeitung, hilfreiche Dokumentationen. Insbesondere während der Versammlung der sozialen Bewegungen waren die Anwesenden bemüht, sowohl konkrete Schlussfolgerungen aus den Seminaren des Sozialforums zu ziehen als auch detaillierte Verabredungen zu weiteren Arbeitsschritten zu treffen.
Als besonders bemerkenswerte Ergebnisse des Sozialforums einschließlich der Bildungs- und Jugendforen und der Versammlung der sozialen Bewegungen stellten die Initiatoren heraus:
- Die Vereinbarung zur Koordinierung von Aktionen durch zu schaffende Sowjets/Komitees: einen Koordinationssowjet der verschiedenen Gewerkschaften, regionale Koordinierungssowjets gesellschaftlicher Organisationen und die Vernetzung der bereits bestehenden. Das Sozialforum soll künftig als gesamtrussischer Koordinierungssowjet fungieren. Ob daraus bzw. dadurch eine „einheitliche linke Front“ entsteht, wie viele Forumsteilnehmer/innen hoffen, bleibt offen.
- Die Organisation einer außerordentlichen Bildungskonferenz, auf der die Bildungspolitik der Regierung bewertet und die gesamtrussische Bewegung „Bildung für alle“ gegründet werden sollen.
- Die Verabredung zu Schwerpunkten des Protestes: Waldprivatisierung bzw. Gesetz über den Wald und das Wohnrecht. Im Rahmen des Sozialforums gab es ein Protestmeeting auf dem Puschkin-Platz.
„Ich habe gedacht, dass eine solche Maßnahme in Russland unmöglich ist“, freute sich der Vorsitzende der Gewerkschaft Baschkirer Fluglinien über das Sozialforum, und tat damit eine sehr repräsentative Meinung kund. Auch die Gäste aus der Ukraine, aus Kasachstan, Weißrussland und Moldawien waren sehr angetan. Bleibt zu hoffen, dass die positive Erfahrung zu weiterer gesellschaftlicher Aktivität und solidarischem Miteinander stimuliert.
Die größten Probleme, die sich offenbarten, sind:
- Die Hegemonie einer sehr vereinfachten Denkweise in den Kategorien des Marxismus-Leninismus und damit des Fokus auf die vorzubereitende Revolution
- Eine Fixiertheit auf die Auseinandersetzung mit der Regierung bei einem Unverständnis von gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnissen
- Eine Geringschätzung von allgemeinmenschlichen und sozialistischen Werten und individuellen Freiheiten
- Ein mangelndes Verständnis für de Bedeutung von Menschenrechten, von sozialen, politischen und kulturellen Rechten und Demokratisierung
- Tendenzen von imperialem und nationalistischem Denken
- Wenig Verständnis für die gesellschaftliche Relevanz von Geschlechterverhältnissen und ökologischen Problemen
- Das Fernbleiben von Migrantinnen und Migranten, was nur selten als Defizit benannt wurde
- Die ausgeprägte Neigung, das Forum lediglich als eine schnell zu überspringende Stufe auf dem Weg zu einer großen antikapitalistischen Bewegung zu betrachten
- Das Erscheinen von Faschisten
- Das Desinteresse von Presse und Fernsehen am Forum.
II. Zu einigen konkreten Debatten
Boris Kagarlitzki, der den Erfolg des Sozialforums mit dem „Aufschwung sozialer Bewegungen im Land“ erklärte, stellte heraus, dass der soziale Protest vom Januar in seiner Breite überraschend war. Die Protestierenden vertrauten weder den Liberalen, noch den Politikern der Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) oder „Rodina“. Ihre Wut auf die Macht gehe einher mit Misstrauen gegenüber der parlamentarischen Opposition. Im Lande formiere sich eine neue Opposition. Ihre Basis seien die sich entwickelnden sozialen Bewegungen. Dies sei vergleichbar mit anderen Ländern, in denen der soziale Protest Sozialforen hervorgebracht habe. „Die neue Internationale, die sich auf der Grundlage von Ideen, verkündet durch die Sozialforen, herausbildet, ... erweist sich im Unterschied zu den vorangegangenen als ... demokratisch: Die Idee der Initiative von unten.“ Für die russische politische Kultur sei das fremd. „Fernsehen und Presse haben diese ´falsche´ Maßnahme freundlich ignoriert. Aber die sozialen Bewegungen entwickeln ihre eigenen Medien“.
Olga Kasarina berichtete vom Jugendforum dass sich „die mögliche Vereinigung ´linker´ Jugend und die Perspektiven der Jugend-Protestbewegung in Russland“ als „Grundfrage der Diskussion“ erwiesen hätten. Man habe herausgearbeitet, dass „linke Aktivisten“ die Gesellschaft nicht verändern könnten, wenn sie sich von den sozialen Problemen und den Sorgen der Bevölkerung entfernen. Interesse erfreuten sich die Themen „Gegen den Krieg“, „Die Rechte der Studenten Konsequenzen der Annahme des Gesetzes 122 für Studenten, Bildungsreform und Methoden zur Verteidigung der Studentenrechte. Vereinbart wurde die Kommunikation über das gemeinsame Internet-Projekt „SKAJLNET“.
Piotr Rausch beklagte, dass nur wenige Menschen zur Diskussion über den Kaukasus-Krieg erschienen. Linksliberale forderten ein internationales Tschetschenien-Tribunal, den Abzug aller russischen Truppen und den Einzug ausländischen Militärs. Eine andere Gruppe wollte zunächst all jene vor ein Militärgericht stellen, die Verbrechen gegen Zivilpersonen verübt haben. Sie hielt die Forderung nach sofortiger Beendigung der Okkupation Tschetscheniens für unrealistisch. Das sahen andere Linke ganz anders. Ebenso gestritten wurde über die Frage nach der Schuld am Krieg. Für die Anarchisten lag die Hauptschuld eindeutig bei den russischen Machthabern. Auch in der Frage nach den Prioritäten für aktuelle linke Politik gab es keinen Konsens: Die einen meinten, die Wiedererrichtung der Wirtschaft Tschetscheniens sei erster Tagesordnungspunkt, die anderen die humanitäre Hilfe. Man verständigte sich lediglich auf die Dokumentation der verschiedenen Standpunkte.
Ausgesprochen lebhaft wurde die Frage diskutiert „ist in Russland eine orangene Revolution möglich?“. Die Diskutanten tendierten zum „Nein!“. Schließlich habe der Westen viel Geld in die ukrainische Protestbewegung gepumpt, um den Einfluss des russischen Imperialismus zurückzudrängen. Die Protestbewegung sei vorrangig „gekauft“. Ferner sei in Russland eine derartige Wiederbelebung des Nationalbewusstseins, das die Klassengegensätze so gut wie vollständig überdecken könnte, nicht so einfach möglich. Die Nationalisten könnten nur über die Losung „Verteidigung Russlands gegenüber den USA“ das Volk einen. Ferner wurde die Frage aufgeworfen, ob in Russland eine Koalition der Linken mit den Liberalen zustande kommen könnte. Für die russischen Liberalen sei die ukrainische orangene Revolution ein Ideal, aber die Massenproteste und die sich entwickelnden Bewegungen sprächen gegen einen Erfolg dieses Ideals. Einige Trotzkisten benannten schon die Führer geplanter russischer orangefarbener Revolution: B. Ryshkow und G. Gasparow. Garri Gasparow nahm am Sozialforum teil.
Wladimir Kisima, Professor für Philosophie und Mitglied des Zentralkomitee der Sozialistischen Partei der Ukraine, sah die Problematik wesentlich differenzierter: „Ja und Nein!“ sei seine Antwort auf die Frage nach einer möglichen orangenen Revolution in Russland. „Ja“, weil ihr Ausgangspunkt der Zerfall der Sowjetunion sei, „Nein“, weil in Russland der Staat nach wie vor eine große Rolle spiele. Somit seien die Bedingungen für den Kampf zwischen den Clans und oligarchischen Gruppen anders. Während in Russland der Staat die Clankämpfe kontrolliere und reguliere, sei in der Ukraine die Staatsmacht Mittel und Ziel des Clankampfes geworden. Damit einher gehe eine Schwächung der Macht des Präsidenten. In der Ukraine wäre sehr wohl das Volk zur treibenden Kraft der Ereignisse geworden, aber es gehe nicht um seine Angelegenheiten, sondern um Inter-Clanbeziehungen. Die Kommunistische Partei hätte sich faktisch auf die Seite Janukowitschs gestellt, die Sozialistische Partei (SP) hingegen einen Vertrag zur Zusammenarbeit mit Juschtschenko unterschrieben. Die SP hätte die Bedingung gestellt, dass Juschtschenko und seine „Unsere Ukrainie“ im Obersten Rat für das Gesetz über die politische Reform stimmten. (Das Gesetz ist nunmehr beschlossen) Damit würde die Präsident-Parlament-Beziehung zugunsten des Parlaments verändert. Das wäre zwar alles kompliziert, aber für Sozialisten stehe immer zuerst die Frage, wie sie demokratisieren helfen können. Schließlich sei nur Demokratisierung der Weg zu gesellschaftlichen Veränderungen. Durch die orangene Revolution hätten die Zivilgesellschaft wachsen und Bevölkerung an Lernprozessen teilhaben können. Das sei wichtig, wenn man eine Zivilgesellschaft im Sinne der Marxschen Selbstorganisation der Gesellschaft will. Die Linke müsse heute alles tun, um die Entwicklung der Zivilgesellschaft und Demokratie zu befördern. Dabei müsse sie sich in Widersprüchen bewegen. Die SP habe die orangene Revolution unterstützt ohne sich Illusionen gemacht zu haben. Sie habe aber um die Gefahren gewusst, hätte sie ein politisches Vakuum zugelassen.
Diese Position unterstützte der Moskauer Historiker und internationale Sozialforum-Aktivist Kiwa Maidanik: Die ukrainische SP betreibe eine Politik, die auf einen Richtungswechsel in der gesellschaftlichen Entwicklung zielt. Gerade darin bestünde die Herausforderung für die globalisierungskritische Bewegung. Für sie sowie für die sozialistische Bewegung seien Werte wichtiger denn je. Schließlich könne die Linke einen positiven Richtungswechsel der Politik und der gesellschaftlichen Entwicklung nur erwirken, wenn sie sich von menschlichen, von sozialistischen Werten leiten ließe. Es gebe fünf Hauptgefahren für das weitere Erstarken neoliberaler Herrschaft: Die Entwicklung von Imperien, die Rolle des Imperiums USA in der Welt, die Aufrechterhaltung der Auslandsschulden armer Länder, die Passivität der Massen und die „ewigen Wahrheiten der Linken“.
Während Kiwa Maidanik und Wladimir Kisima recht deutlich wissen, was sie wollen, formulierte Rosa Gorn drei „Rätsel des Russischen Sozialforums“:
- Wie wird nun die Übereinkunft, „sich zu vereinigen“ verstanden? Sie könne schließlich unterschiedlich interpretiert werden: Entsteht „wirklich ein Netz von Koordinationskomitees“ oder „eine nach einem Einheitsmaß strukturierte oppositionelle gesellschaftliche Bewegung oder eine Partei? Und das Wichtigste: Wird das ein Berg oder eine Maus?“
- „Können Marxisten und Rechtschützer in einer ´einheitlichen Kolonne´ gehen? Unter anderem bei Wahlen? Und achten die jungen Marxisten auch dann die alten, wenn sie ihre liberalen Anschauungen erklären?“
- „In welchem Maße werden sich die Gewerkschaften (einer neuen Welle) einer gegebenen Bewegung (oder Partei) anschließen? Viele von ihnen haben den Wunsch geäußert, sich von der Politik zu distanzieren ...“
Für zahlreiche Forumsteilnehmer/innen sind gerade diese drei Rätsel die entscheidenden Fragen.
(Judith Dellheim)