BerichteNeuer Frühling in Tunesien? Vor dem Weltsozialforum in Tunis setzen Streikdrohungen die Regierung unter Druck
(von Peter Schäfer, neues deutschland) Keine idealen Startbedingungen für die seit zehn Tagen amtierende neue tunesische Regierung unter Ministerpräsident Ali Larayedh. »Die Kontrolle der Preise hat höchsten Stellenwert für uns«, sagte Rida al-Saidi, Minister für Wirtschaft und Soziales. Weitere Prioritäten benannte die Regierung nun mit der Bekämpfung von Verbrechen und Gewalt, Wirtschaftsentwicklung und Schaffung von Arbeitsplätzen sowie Vorgehen gegen Korruption. Außerdem sollen Neuwahlen mit Nachdruck vorangetrieben werden. Diese werden im September stattfinden, so ein tunesischer Diplomat. Bis dahin muss die neue Regierung, wiederum dominiert von der islamistischen Ennahda-Partei, der Wahlsiegerin von 2011, Erfolge vorweisen können. Die Partei firmiert laut Umfragen immer noch an der Spitze der Beliebtheitsskala, jedoch dicht gefolgt von der säkular-konservativen Nida Tunis. Schafft es die Ennahda, ihre Einheit zu bewahren, kann sie wieder als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen. Das wird jedoch nicht leicht angesichts der Heterogenität ihrer Anhänger und der sozialen Ungleichheiten im Land. So favorisiert die Parteispitze Wirtschaftsfinanzierung durch ausländische Kredite und die Anwerbung ausländischer Investitionen, auch wenn dies einer souveränen Wirtschaftsentwicklung abträglich ist. Die Parteibasis ist eher in Opposition gegen diese Politik. Aber es ist auch aufgrund der generell starken Spaltung zwischen säkularen und islamistischen Organisationen Tunesiens eher unwahrscheinlich, dass sich im Land mittelfristig eine Einheit aller für soziale Gerechtigkeit Kämpfenden bildet. Dieselben internen Entwicklungen macht auch der Hauptkoalitionspartner der Ennahda durch. So stimmte nur knapp über die Hälfte der Parlamentsfraktion der säkularen Konferenz-Partei von Präsident Moncef Marzouki für die neue Regierung. In Umfragen liegt die Partei mittlerweile bei zwei bis vier Prozent, nach einem Wahlergebnis von 8,71 Prozent. Ansonsten scheint sich die Regierungspartei Ennahda aber gefangen zu haben. Diskussionen über die richtige Staatsform sind vorbei und die Partei präsentiert sich als in der parlamentarischen Demokratie angekommen. Ministerpräsident Larayedh will die Pressefreiheit garantieren. Er sucht die Zusammenarbeit mit den anderen Parteien. Abgesänge auf die Ennahda gehen auch angesichts der zersplitterten restlichen Parteienlandschaft - außer Nida Tunis würde nur noch die linke Volksfront, wenn auch knapp, auf ein zweistelliges Ergebnis kommen - an der Wirklichkeit vorbei. Insgesamt stehen jedoch alle Parteien vor derselben großen Herausforderung, nämlich der politischen Einbeziehung der gesamten Gesellschaft. Bis zu 50 Prozent der Tunesier gelten als am Parlament desinteressiert und sehen im Wirken der Abgeordneten keinen Nutzen für die Erfüllung der revolutionären Forderung nach »Brot und sozialer Gerechtigkeit«. Das Potenzial für einen zweiten großen Aufstand besteht somit weiterhin, die vielen für April angekündigten Streiks sind nur ein Hinweis darauf. Trotz aller Revolutionsromantik dürfte jedoch ein großer Teil der WSF-Gäste insgeheim hoffen, dass dieselbe nicht gerade nächste Woche beginnt. Denn dann gäbe es nicht nur kein Brot, sondern auch keine Flüge nach Hause mehr. |
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