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"Für das Weltsozialforum gibt es keinen Ersatz"
Das Weltsozialforum in Kanada erhält weniger Aufmerksamkeit als frühere Foren. Der Soziologe Christian Schröder begründet dies mit mangelnder politischer Fokussierung des Forums. Wirksam sei es aber weiterhin.
(von Kersten Knipp, Deutsche Welle)
DW: Herr Schröder, in Montreal geht gerade das Weltsozialforum zu Ende. Das Medieninteresse ist offenbar gering - man liest und hört sehr wenig. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Christian Schröder: Weltpolitisch hat sich sehr viel verändert. Zu Beginn der globalisierungskritischen Bewegungen zur Jahrtausendwende hat sich der Protest gegen größere transnationale Organisationen wie etwa die Welthandelsorganisation, den Internationalen Währungsfonds oder die Weltbank gerichtet. Diese Kritik hat etwas an Bedeutung verloren. Dadurch ist es für eine globalisierungskritische Bewegung schwieriger geworden, sich zu positionieren. Zudem hat es sich zeitlich vom Weltwirtschaftsforum in Davos abgekoppelt, zu dem es ja einst eine Gegenbewegung darstellte. Derzeit fehlt einfach ein starker Gegenpol.
DW: Dabei gibt es doch mehr und mehr internationale Missstände von der Erderwärmung über fehlende Chancengleichheit bis zur Massenmigration und ihren Ursachen. Mobilisiert das die Leute nicht?
Die Themen, die vor 15 Jahren und heute bearbeitet werden, ähneln sich. Da hat das Weltsozialforum auch sehr wichtige Schwerpunkte gesetzt. In diesem Jahr in Kanada ist es die Ausbeutung der Bodenschätze und der Klimawandel. Das hätte durchaus Menschen mobilisieren können. Das wurde dann durch den Umstand überschattet, dass einige Teilnehmer aus Afrika und Lateinamerika keine Visa erhalten haben. So wurde auch das Thema Reise- und Visafreiheit stark diskutiert. Hinzu kommt: Das Forum wurde dieses Mal mehr von Individuen ausgerichtet und weniger von großen Organisationen wie etwa Gewerkschaften, Bewegungsnetzwerken oder größeren Nichtregierungsorganisationen. Es war viel stärker lokal verankert. Auch stellt sich die Frage, ob man das Forum noch einmal auf der Nordhalbkugel veranstalten sollte.
DW: Dennoch kann man den Eindruck haben, die großen Herausforderungen würden weniger entschlossen angegangen als vor 15 Jahren.
Mir scheint, das hängt auch sehr stark von der Frage ab, wo das Weltsozialforum stattfindet. Hätte man es nun nach Athen verlegt, wären die derzeitigen Herausforderungen noch einmal viel stärker in den Vordergrund gerückt. In Kanada hingegen standen vor allem Umweltfragen im Vordergrund. In der Welt hingegen achtet man derzeit vor allem auf die globalen Fluchtbewegungen.
DW: Von außen scheint es, als seien die Reformkräfte ein wenig ermattet.
Zu Teilen würde ich es so sehen. Man kann nicht leugnen, dass sich das Weltsozialforum derzeit nicht unbedingt auf seinem Höhepunkt befindet. Dennoch hat man auf den beiden letzten Foren gesehen, dass es etwas bewegen kann und noch einen bedeutenden Namen, einen Mythos hat. Dieser kann die Leute durchaus noch bewegen, sich zu informieren und zu engagieren, und zwar über die unterschiedlichsten Themen. Sollte man etwa entscheiden, das Weltsozialforum in ein derzeitiges Zentrum des Krisengeschehens, in den Maghreb, zu verlegen, könnte das zusätzlich mobilisieren. Dort könnte es die Akteure mit ganz unterschiedlichem Hintergrund miteinander ins Gespräch bringen und vernetzen. Hier treffen die unterschiedlichsten Themen, Menschen unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlicher Hautfarbe aufeinander. Das ist ein wesentliches Merkmal der Veranstaltung. Das verliert sich nicht, und dafür gibt es auch keinen Ersatz.
DW: Dialog, Austausch, Diskussion - wie wirken die Mechanismen des Weltsozialforums denn nach außen, wie übersetzen sie sich in konkrete Politik?
Das Weltsozialforum mobilisiert die Teilnehmer vor Ort. Menschen aus mehr als einhundert verschiedenen Ländern treten miteinander in Kontakt. Die behandeln die unterschiedlichsten Themen. Es zeigt sich dann, dass diese Themen miteinander zusammenhängen. Wenn die Leute dann in ihre jeweiligen Länder zurückreisen, nehmen sie diese Erfahrung mit. Wenn ich als männlicher weißer Europäer dorthin gehe, werde ich noch einmal mit ganz anderen Fragen konfrontiert. So werden mir zum Beispiel die Privilegien klar, die ich als Europäer genieße - Stichwort Reisefreiheit. Mit diesen Fragen setzt sich das Weltsozialforum auseinander - und zwar auch, indem es sich selbst immer wieder kritisiert und hinterfragt. Alle setzen sich permanenter Kritik aus. Und darüber verändert sich dann etwas.
(Der Sozialwissenschaftler Christian Schröder verfasst das Buch "Das Weltsozialforum. Eine Institution der Globalisierungskritik zwischen Organisation und Bewegung". Er lehrt an der Universität Luxemburg.)
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