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Berichte

Am Rande von Porto Alegre und an der Plaza de Mayo: Wächter, wie lange dauert noch die Nacht? (Jesaia 21,11)

Erfahrungsbericht und Überlegungen eines katholischen Priesters zu Argentinien und Porto Alegre.

(von Don Massimo Nevola, aus http://germany.indymedia.org/2002/02/16429.shtml)

Ich bin gerade seit zehn Tagen aus Südamerika zurück, wo ich am Weltsozialforum in Porto Alegre teilgenommen habe. Ich habe auch Buenos Aires besichtigt, um mir ein direktes Bild davon zu machen, was dort seit November geschieht. Beide Reiseerlebnisse sind stark miteinander verbunden. In Porto Alegre bekam ich einen Eindruck zur Bewegung der Sozial Foren. Sie stellt eine der großen Hoffnungen dar, welche die Menschheit des 3. Jahrtausends ergreift. In Buenos Aires riecht die Luft nach Revolution, die dann die erste in diesem Jahrtausend wäre. Der Enthusiasmus und die Vitalität von Porto Alegre findet nicht nur Widerhall in den politischen Foren Europas, sondern auch im Leben der universellen Kirche.

Eine der Aspekte die mich am meisten beeindruckte, war die inoffizielle Teilnahme von 14 lateinamerikanischen Bischöfen - gegenüber Europa ein Zeichen ihrer Frühreife. Mit ihnen kamen über 400 Priester, Gläubige und Seminaristen, die sich zum Großteil ohne Unterschied mit den Teilnehmern des Forums vermischten. In der Mehrheit kamen sie von der Bewegung der Basisgemeinden, Vertreter der sozialen Belange vieler einfacher Leute (meistens halbe Analphabeten, so wie sie zuhauf den lateinamerikanischen Kontinent bevölkern). Es freut mich dies besonders hervorzuheben - nicht nur aus beruflicher Solidarität - sondern vor allem, weil dieses noch offensichtlich marginale Element eine Neuheit in dieser Bewegung darstellt: Das Bedürfnis starke spirituelle Motivationen zu finden, die nicht unbedingt konfessioneller Natur sind.

Die Bewegung zeigt sehr viel Affinität zu den rebellierenden Massen Ende der sechziger Jahre. Sie ist jedoch etwas vollständig Neues, sobald man mit den jungen Menschen und den Erwachsenen, mit entsprechender Erfahrung politischer Militanz, spricht. Dies ist nicht die gleiche Bewegung. Die Krise des realen Sozialismus, das Scheitern der Sozialdemokratien haben die ideologisch motivierende Wurzel zum Wanken gebracht. Deshalb ist es dringend notwendig, mögliche Wege zu finden, die eine alternative Basis zum Neoliberalismus bilden, der von allen auf dem Forum als schändlich verurteilt wurde.

Auf den T-Shirts, auch unserer Seminaristen, befand sich überwiegend das Abbild des bereits mythischen Che Guevara. Das alles macht mir Freude und erfüllt mich mit Heiterkeit, doch lässt es mich nicht ruhig. Wenn es notwenig ist, zu dem revolutionären Modell vor 35 Jahren zurückzukehren, bedeutet das -so glaube ich- zwei wichtige Dinge: Das erste ist, dass das dringende Bedürfnis empfunden wird, die unterdrückenden Strukturen auf der Welt radikal zu ändern, das zweite -das mich besorgt stimmt- ist, dass zeitgemäße Modelle, auf die man sich beziehen könnte, fehlen.

Fidel Castro wie auch Subcomandante Marcos waren auch diesmal nicht auf dem WSF anwesend (Sie waren vielleicht nicht von der Leitung des PT, der größten Partei der brasilianischen Linken, erwünscht. Sie hofft darauf, Extremismen vermeidend, die Mittelklasse angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen zu gewinnen.) und andere Leader gibt es nicht. Die Bewegung baut an seiner präzisen Identität, in der das Symbol Che akzeptiert wird und zwei große Fermente von Neuheit eingeschlossen sind: Die Ablehnung des Begriffs "Sozialismus" (verstanden als die zwei gescheiterten Modelle des osteuropäischen Sozialismus und der modernen liberalen Sozialdemokratien) und die radikale Ablehnung des Begriffs "gerechter Krieg".

Die Geschichte von Che steht über dem Projekt der so genannten "Selbstbestimmung der Völker", das Krieg als Mittel Konfliktlösung ablehnt (hier auch über die eigene Geschichte Guevaras hinausgeht und die Guerilla hinter sich lässt) und es schaut in die Zukunft der Völker durch die Schaffung sozialer ökonomien, die alles andere als konsumistisch sind, sowie auf die Geburt multiethnischer Gesellschaften, die auf dem Reichtum jeder Kultur als ihr integraler Träger basieren.

Alles andere als konsumistisch sagte ich. Aber dazu bedarf es nicht nur eines Korrektivs des Kapitalismus, sondern des definitiven Verlassens seiner Logik der Akkumulation. Und dies wird nicht gelingen, ohne die Wiederentdeckung einer tiefgehenden humanistischen Identität. Die bewegte und massenhafte Teilnahme an den Seminaren von Frei Betto und Don Luciano Mendez, scheint dies zu bestätigen. Wie ist die Heilige Theresa von Avila mit Che Guevara zu vereinbaren? Das ist ein neues Paradoxon, das wir im Westen wahrscheinlich nicht grundlegend begreifen können. Doch Betto Frei schlägt gerade dies vor und die Menge der jungen Menschen, die vor Begeisterung tanzen, zeigen, dass dies Paradoxon nicht nur möglich, sondern auch einen Teil der Stärke der Bewegung ausmacht. Die materialistische Anthropologie erwies sich zu erstickend und nicht frei vom Dämon des "Willens zur Macht!". Nur eine starke Innerlichkeit kann also zu diesem Kampf beitragen, kann helfen, nicht mehr für vier Silberlinge die Solidarität mit dem man arbeitet, oder mit dem man auf der Suche nach Arbeit ist, zu verlassen. Entschiedener Kampf, "ohne die Sensibilität zu verlieren" (Che) - ein Bemühen, das weder Angst hat, noch aufgibt gegenüber jeglicher Art von Repression der Reaktion. Sie ist identisch mit dem Geist des Lebens, die alle Menschen zu Brüder und Schwestern macht (Heilige Theresa).

Weg also vom neoliberalistischen Konsumismus zu einer verträglichen Zukunft. Das ist die erste fundamentale Trennlinie, welche die Bewegung zieht. Auch ihre zweites Kriterium, die Ablehnung des Krieges, ist damit verbunden. Alle Kriege, das ist bekannt, erwachsen aus puren ökonomischen Teilinteressen.

Der Wille zur Macht, der Wille zu Beherrschen, der Wille zur Ausbeutung: Sie kommen aus der gleichen dämonischen Haltung. Und die brutale Gewalt, der Terrorismus werden durch sie zu einem unvermeidlichen Werkzeug. So ist es bei allen "Imperien" gewesen, so geschieht es heute im "Mittleren Orient", in Afghanistan, in den manipulierten Guerillas der Stämme, die im Kongo und Sudan das Leben töten.

Wer nicht in der Lage ist, das Desaster des aktuellen sozioökonomischen Systems zu begreifen, wird außerhalb des Spiels bleiben und nicht nur aufgrund der Akzeptanz durch die Bewegung (hier sei das Auspfeifen der verschiedenen sozialdemokratischen Parlamentarier erwähnt), sondern auch aufgrund der Zukunftsperspektiven unseres Lebens auf diesem Planeten.

Das Forum jedoch erhebt gewaltig seine Stimme, und dies nicht nur um die Vielzahl derer zu verteidigen, die keine Stimme besitzen (6 Milliarden Menschen), - schon allein deswegen übt sie eine wichtige Funktion auf internationaler Basis aus- sondern auch aufgrund ihrer prophetischen Dimension, mögliche Wege einer verträglichen Entwicklung für die Menschheit, auch in der ersten Welt, aufzuzeigen. Und hier trifft sich die Erfahrung des Forums mit der direkten Konfrontation, die ich mit den Bürgern von Buenos Aires hatte, die zum Großteil aus dem Mittelstand kamen oder kleinere Ersparnisse besaßen. Da war es nicht notwendig, die Realität der Favelas zu filmen (die wir dennoch auch, dank der glänzenden und interessanten Darstellung der Franziskaner sehen konnten) oder auch das Drama der Menschen der Sub-Sahara erneut darzustellen. In diesem modernen Argentinien, diesem Land der enormen Möglichkeiten -auch in Bezug auf seine Technologien-, kann man heute die dramatischen Auswirkungen der neoliberalen Politik erleben, die versucht, und hoffentlich ohne Erfolg, die kleinen Leute jene Schäden ihrer wilden Privatisierung zahlen zu lassen, die die liberalistischen und konservativen Administrationen zu verantworten haben. Sie ernähren sich hier wie überall auf der Welt durch Korruption (die sie ohne Skrupel weiter praktizieren) und halten sich durch sporadische paternalistische Zugeständnisse an der Macht.

Die Argentinier scheinen nach 60ig Jahren aus ihrer Dumpfheit erwacht zu sein. Täglich treffen sie sich zu Demonstrationen, um ihre zivilen Rechte einzuklagen. Bürger aller Alterstufen zeigen ihren Willen, Protagonisten ihrer eigenen sozialen Organisierung zu werden. Somit scheint hier zum ersten mal die Demokratie zu wachsen. Es ist das Volk, das sich spontan in Stadtteilräten organisiert und beeindruckende Kundgebungen organisiert - und dies nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch überall im Land.

Mit der Vergangenheit zu brechen, bedeutet auszuschließen. Es bedeutet die entschiedene Weigerung, sich von irgendeiner Partei oder traditionellen Institution führen zu lassen. Sie waren alle Betrüger. Auch die hiesige Kirche, im Gegensatz zu Brasilien oder Chile, steht auf dem Tiefpunkt ihrer Glaubwürdigkeit, denn sie hat sich zu sehr mit der Diktatur eingelassen. Und wenn es für sie schwer ist, sich wieder aufzurichten, scheint es für die traditionellen Parteien der Linken nicht leichter zu sein. Sie sind befallen vom Virus der Korruption und zeigen bis heute wenig Ansätze einer Alternative.

Das Volk zeigt den Willen, sich selbst zu bestimmen und die Kraft des Zusammenschlusses, sodass es in wenigen Monaten drei Präsidenten zu Fall brachte. Das mag alles begeistern, doch auch hier habe ich meine Bedenken, die ich noch für mich im Herzen bewahren kann. Das betrifft v.a. den Beginn der Revolte: Es wurden die Ersparnisse eines Lebens angetastet. Viele meinen, dass es genügt, die entstandenen Schäden auf den Konten zu ersetzen, um die Kundgebungen zu beenden. Andere weinen PerÎn nach. Wohin wird die nahe Zukunft führen? In einen Neoperonismus, der voll auf der Linie des FMI und der Nordamerikaner liegt?

Unter den jungen Menschen, scheinen diese Zweifel überwunden, sicherlich auch in der Assoziation Mütter der Plaza de Mayo und mit einigen Vorbehalten auch in der neuen Gewerkschaft CTA. Aber haben die jungen Menschen in Wirklichkeit die Kraft, die Erhebung zu leiten und ein neues politisches Projekt der solidarischen Selbstbestimmung des argentinischen Volkes einzuleiten? Und wer wird sie von außen unterstützen? Die Sozialdemokratie Jospins oder die brasilianische PT von Lula? Was ist mit Cuba?

Und das Volk des Sozialforums? Letzteres bleibt der glaubwürdigere Partner, so wie er es auch für die Sache der Palästinenser oder der Landlosenbewegung ist. Eine schwache Referenz, doch so ist die Lage; ebenso ist der ungezügelte Wille zur Veränderung bei 80% der Argentinier eine Tatsache.

Ich kehre reich an humanen Erfahrungen nach Europa zurück, und ich besitze mehr Wille zum Kampf und mehr Zweifel, was die Rolle Europas (und hier auch der Kirche) bezüglich der neuen Gewichtung anbelangt, die sich allmählich abzeichnet. Es ist die Nord-Süd Herausforderung die schon W. Brandt 1979 in seinem Bericht erwähnt und die Frage aufwirft, welche Politik zu verfolgen ist. Jene Taktik der Macht, die Europa zum zweiten Bein des Neoliberalismus machen könnte?

Aber die No-Global Bewegung ist glücklicherweise auch bei uns angekommen. Ihre ersten Märtyrer befruchten ihr Wachstum, das niemanden leicht fallen wird aufzuhalten oder in ?normale? Gleise zu lenken. Sie ist ein ?Zeichen der Zeit?. Es ist illusorisch zu denken, auf diesem Pferd zu reiten, um Wählerstimmen zu fangen oder schlimmer noch, es zu zähmen und in die Strategien vergangener Zeiten überführen zu wollen. Dieses Wildpferd reitet nur, wer mit seiner DNA konform ist. Bei dieser Bewegung muss man sich verändern.

Was bleibt also noch von dieser Nacht der wilden Spekulation, der Korruption und der Strategie des Todes? Gibt es einen Sonnenaufgang der Hoffnung? Der Wächter der Bewegung kann darauf prophetisch antworten: "Wenn ihr fragen wollt, fragt, bekehrt euch und kommt wieder!" (Jesaia 21,12)

(Übersetzung: Günter Melle)

 

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