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Berichte

Resumee zum 3. Weltsozialforum

Aus dem Blickwinkel eines der rund 24.000 Delegierten

von Hartmut Regitz <hartmutregitz@web.de>, Delegierter der Aktion 3. Welt Saar und Mitglied von Attac-Saarbruecken

1. UEBERBLICK

Das 3. Weltsozialforum (WSF) ist nun schon eine Zeitlang vorueber, und nach der Lektuere der deutschsprachigen Presse-Artikel  will ich hier versuchen, neben einigen bisher kaum erwaehnten Bereichen auch umstrittene inhaltliche und organisatorische Fragen aufzugreifen.

Auf dem WSF wurde die neueste Datensammlung von "Social Watch" als CD verteilt, laut der im Jahr 2001 eine Summe von netto 150 Mrd. US-$ aus den Entwicklungslaendern an die Industrienationen floss (Schuldzinsen, Handel, Investitionen, Profit, "Entwicklungshilfe" usw. miteinander verrechnet). Ein Kriterium fuer die Beurteilung des WSF koennte sein, inwiefern es dazu beigetragen hat, Tatsachen wie diese allgemein bewusst zu machen oder gar zu aendern.

Auf dem ersten WSF wurden vor allem die weltweiten Auswirkungen der neoliberalen Offensive zusammengetragen, auf dem zweiten wurden auch Gegenkonzepte diskutiert, die Kommunikationsmoeglichkeiten verbessert und ueber verbindlichere Strukturen beraten. Ziel des dritten Forums, das vom 23.-27.01.2003 im suedbrasilianischen Porto Alegre stattfand, sollte die Konkretisierung von Alternativen zum Neoliberalismus und die Verstaendigung ueber Aktionen und Kampagnen sein. Es kamen ueber 20.000 Delegierte aus rund 5000 Gruppen, NGOs, Gewerkschaften, Netzwerken u.a. Bewegungen, insgesamt sollen rund 100.000 Menschen teilgenommen haben. Mit diesem quantitativen Wachstum stiess das WSF auch an seine finanziellen, organisatorischen und raeumlichen Grenzen. In den Vorjahren hatten die Diskussionen im wesentlichen an der katholischen Universitaet PUC stattgefunden &#8211; nun wurden die Grossveranstaltungen in die Kongresshalle "Gigantinho" ausgelagert, und insgesamt waren die Aktivitaeten des 3. WSF auf rund 10 verschiedene Oertlichkeiten verteilt, die z.T. kilometerweit auseinander lagen.

Inhaltlich war das WSF zum einen nach Themenachsen strukturiert, die taeglich als Plena und Konferenzen von 8.30-12.00 und von 14.00-17.00 Uhr stattfanden: 1. Demokratische und nachhaltige Entwicklung; 2. Menschenrechte, das Recht auf Unterschiedlichkeit und Gleichheit; 3. Medien, Kultur und Alternativen zu Kommerzialisierung und Homogenisierung; 4. Macht, Zivilgesellschaft und Demokratie; 5. Demokratische Weltordnung, Frieden. Zum andern wurden rund 1300 von Delegierten selbstorganisierte Workshops und 114 Seminare angeboten, die meisten als dreitaegiges kontinuierliches Angebot  (24.-26.). Viele dieser kleinen Veranstaltungen fielen allerdings auch aus, z.T. wegen mangelnden Interesses, z.T. wegen ueberraschender Veraenderungen des Terminplans (z.B. der kurzfristig angesetzten Rede von Lula).  Daneben gab es noch 4 "Runde Tische der Kontroversen" und "Zeitzeugen", die ueber ihren Lebensweg berichteten (z.B. die Landesbischoefin der Ev. Kirche Hannovers, oder die brasilianische Umweltministerin).

Gewuerzt wurde dies durch ein umfangreiches Kulturprogramm mit Live-Musik, Filmen, Foto-Ausstellungen, Strassentheater, Lesungen...
 
2. "DIALOG" UND ILLUSIONEN

Fuer die deutschsprachigen Teilnehmer war zu Beginn und zum Abschluss des WSF jeweils ein Treffen im Goethe-Institut angesetzt, zu dem rund 130 Delegierte erschienen. Das Spektrum reichte vom CDU-Mitglied Peter Hesse, der fuer "Congo" warb (Conference of NGOs in consultative Status with the ECOSOC of the UN), ueber die Anthroposophen vom "Netzwerk fuer soziale Dreigliederung" Stuttgart bis zu PDS-, DKP- und Euromarsch-Vertretern. Relativ stark vertreten waren oesterreichische Gewerkschafter und die GEW. Ver.di-Vorsitzender Bsirske hatte seine Teilnahme angekuendigt, doch wie schon beim Europaeischen Sozialforum in Florenz war er schliesslich doch "verhindert". Die meisten Anwesenden hatten ihre Reise bezahlt bekommen.

Juergen Reichel vom Evangelischen Entwicklungsdienst (EED), der im hoechsten Gremium des WSF, dem ueber hundertkoepfigen "Internationalen Rat" sitzt, berichtete ueber dessen Kontroversen: die asiatischen und afrikanischen Delegierten fuehlten sich unterrepresaentiert und plaedierten fuer Indien als naechsten WSF-Treff; die zahlenmaessig dominierenden lateinamerikanischen Delegierten dagegen plaedierten fuer Porto Alegre als staendigen WSF-Austragungsort. Neben dem wirtschaftlichen Faktor (-zig Millionen US-$ Umsatz) duerften dafuer vor allem politische Gruende massgeblich sein. Wie Lulas Rede in Davos gezeigt hat, nutzt er das WSF, um Brasiliens internationale Bedeutung zu staerken.

In der Auswertung des WSF beim Abschlusstreffen der deutschsprachigen Delegierten wurde die Selbstgefaelligkeit vieler NGO-Aktivisten deutlich, die begeistert ueber die "Buntheit", die vielen Teilnehmer, ihre neugeknuepften Kontakte waren; der Vertreter von "Brot fuer die Welt" forderte sogar, sich angesichts solch positiver Folgen der Globalisierung nicht mehr als "Globalisierungskritiker" zu bezeichnen, andere begruessten den "Dialog" mit dem WWF in Davos.
 
Diesen hatte Lula schon Tage vor dem WSF angekuendigt, und war anfangs auch dafuer kritisiert worden. Doch seine Rede Freitagabends wurde von ca. 70.000 Zuhoerern dann begeistert gefeiert, und in der WSF-Tageszeitung "Terraviva" wurde ebenfalls kraeftig fuer seine Mittlerrolle geworben. Dominierten dort anfangs noch die Aktivisten, so oeffnete die "Terraviva" zunehmend ihre Spalten fuer sozialdemokratische und sogar neoliberale Politiker: der ehemalige portugiesische Praesident Mario Soares plaedierte fuer eine europaeische Armee, gegen die Dominanz der USA fuer eine engere Kooperation zwischen EU und Mercosur (Arg., Bras., Ur. und Par.) und fuer die Erweiterung des UN-Sicherheitsrats um Japan, Deutschland, Brasilien, Indien, "and maybe South Africa". Weltbank-Praesident Wolfensohn betonte unter der Ueberschrift "Eine bessere Welt ist moeglich" den wachsenden Konsens zwischen Eliten und "Zivilgesellschaft" ueber "ein weltweites System, das auf Gleichheit, Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit basiert". Wolfensohn: "Wenn wir unser gemeinsames Ziel erreichen wollen, die Armut zu reduzieren, benoetigen wir eine mittlere weltweite Wachstumsrate von fast 3,5 % pro Jahr bzw. ein BIP von 140 Billionen US-$ bis 2050". In seinem Artikel weist er der Zivilgesellschaft die Rolle des Lueckenbuessers fuer den Schutz der Umwelt und die bessere Ausfuehrung der Weltbank-Projekte zu. Der Gruender und Praesident des WWF, Klaus Schwab, behauptet in derselben Ausgabe, mit "corporate governance"; und dem "Global Greenhouse Gas Register" habe das WWF schon seine soziale Verantwortung bewiesen. WWF-Direktor Ogrizek behauptet, die Globalisierung wuerde den Armen durch die Zerstoerung von Handelsbarrieren der reichen Laender helfen (alle Zitate aus "Terraviva" v. 27.1.2003).

Letzteres war auch eine Hauptforderung von Lula in Davos. Unter den Tisch faellt bei dieser Forderung, dass zunaechst einmal nur die Grossgrundbesitzer und Kapitaleliten in den postkolonialen Laendern von einer Marktoeffnung der reichen Laender profitieren werden. Voellig offen ist, ob es dann zu einem "trickle down"-Effekt auch fuer die arbeitenden Menschen in den armen Laendern kommt, ob sich auch ihre Lage verbessert. Jedenfalls scheint sich in diesem Punkt eine Einigung abzuzeichnen, auch weil die Industriestaaten die Subventionierung ihrer Landwirtschaft nicht mehr finanzieren koennen (fuer jede Kuh wird in der EU taeglich eine Subvention von 2,2 Euro gezahlt, das ist mehr, als die Haelfte der Menschen verdient).

3. STARS UND STREIFEN

Einigendes Band zwischen den Attacies, Christen, "Petisten" (Anhaenger des 1979 von Lula u.a. gegruendeten befreiungstheologisch inspirierten PT),  Sozialdemokraten, Peronisten, Kommunisten, Anarchisten, zwischen Landarbeitern, Lehrerinnen, Studentinnen und Politkern ist die Kritik an der Dominanz der USA. So geniesst der venezolanische Praesident Hugo Chavez in Brasilien grosse Sympathien, obwohl er am Flughafen nur von einem Sekretaer des neugewaehlten konservativen Gouverneurs von Rio Grande do Sul empfangen wurde. Auf seiner 1stuendigen Pressekonferenz liess er in der Tradition autoritaerer Populisten nur 6 Fragen zu und glaenzte ansonsten durch Monologe.

Gehaltvoller war die Reflexion des uruguaischen Schriftstellers Eduard o Galeano, der vor ueber 20 Jahren mit seinem Bestseller "Die offenen Adern Lateinamerikas" erklaert hat, warum Suedamerika gerade wegen seines Reichtums so arm ist - und daran hat sich trotz der protestierenden Millionen noch nichts geaendert. Galeano, der Befreiungstheologe Leonardo Boff und Jean Ziegler boten ihren 20.000 Zuhoererinnen im "Gigantinho" einen der emotional-intellektuellen Hoehepunkte des Forums. Noam Chomsky und Arundhati Roy brachten nichts wesentlich Neues in die Friedensdiskussion ein, begeisterten aber dennoch (oder gerade deswegen?).  Friedensforscher Johan Galtung forderte einen Boykott der USA und erntete dafuer rauschenden Applaus.

In der unuebersichtlichen Vielfalt der Veranstaltungen dienten die "Stars" der Bewegung offensichtlich vielen als Orientierungspunkt und zur Selbstbestaetigung. Durch die raeumliche Zersplitterung des WSF und das alphabetisch, aber nicht thematisch gegliederte ueber 70seitige Workshop-Programm, das erst am Abend des 24. verteilt wurde, kostete es  viele Stunden, bis wir uns orientiert hatten. Das chaotische und spontane Umherstreifen vieler Teilnehmer fuehrte aber auch zu schoenen Begegnungen, die vielleicht mehr zum interkulturellen Dialog beigetragen haben als viele Fensterreden mehr oder weniger Prominenter.

Auf jeden Fall negativ ist die bisherige Intransparenz sowohl der Entscheidungsstrukturen des WSF als auch der grundsaetzlichen inhaltlichen und strategischen Diskussionen. Wer waehlt die Mitglieder des "Internationalen Rats"? Wie kann verhindert werden, dass wichtige Diskussionen nur in einem kleinen Kreis stattfinden, waehrend die Intelligenz tausender Zuhoererinnen durch Fensterreden "bedeutender Maenner" beleidigt wird? Wie kann die Autonomie des WSF gegenueber Vereinnahmungsversuchen politischer Parteien und anderer Interessengruppen bewahrt werden?

Wie kann der Dialog ueber Alternativen zu Neoliberalismus und Kapitalismus, der inhaltlich konkrete Streit, der praktische Erfahrungsaustausch intensiviert werden? Wie koennen gemeinsame kleine und grosse Aktionen geplant werden?  Ein Treffen, das 3,5 Millionen US-$ kostet, bei dem 650 ehrenamtliche Helferinnen ihre Zeit und Nerven opfern, zu dem Tausende aus 150 Laendern anreisen, muesste mehr leisten als nur die Bestaetigung alter Anti-US-Reflexe.

Eine Moeglichkeit zur effektiveren Vernetzung waere, dass die Delegierten, die Workshops anbieten, ihr Thema schon 3 Monate vor Beginn des naechsten WSF dem Org.komitee mitteilen. Dieses muesste die inhaltlich benachbarten Gruppen miteinander in Kontakt bringen, sodass diese sich verstaendigen koennten, zum selben Thema nur einen Workshop anzubieten. Dies koennte die Zahl der Workshops verringern und ihre Teilnehmerzahl gleichzeitig erhoehen, die Vernetzung schon im Vorfeld verbessern sowie die Diskussion  strukturieren helfen.

Umstritten ist die Bedeutung einer Abschlusserklaerung. Beim 3. WSF lag ein Vorschlag vor, der aber schliesslich aus ebenfalls intransparenten Gruenden nicht verabschiedet wurde. Viele Organisationen scheuen die Verbindlichkeit einer gemeinsamen "Plattform", befuerchten Fraktionierung, Grabenkaempfe und vorschnelle Vereinheitlichung.

Hat es sich gelohnt? Es kommt auf die Erwartungen an. Zunaechst war ich enttaeuscht ueber die Kompromissbereitschaft und Naivitaet gegenueber den neoliberalen Ideologen. Ueber die z.T. geglueckten Vereinnahmungsversuche durch PT und Sozialdemokratie. Ueber die Anti-US-Reflexe, die gegenueber den eigenen nationalen Kapitaleliten blind machen. Ueber die unreflektierte Verwendung des Begriffes "Volk", ohne zu hinterfragen, welche Eliten z.B. von der "Solidaritaet mit dem palaestinensischen Volk" profitieren. Ueber die NGO-Vertreter, die vor lauter Organisationsinteresse den Zweck ihres Vereins vergessen haben. Darueber, dass oekonomische Tendenzen und Reform-Alternativen, z.B. die Tobin-Steuer, nur oberflaechlich diskutiert wurden. Und ueber die Intransparenz und Unuebersichtlichkeit des WSF.

Doch dem steht gegenueber, dass hier immer noch ein Raum besteht fuer die Thematisierung internationaler oekonomischer Verflechtungen. Fuer die Bildung von Gegenmacht. Fuer die Diskussion auch antikapitalistischer Perspektiven. Nach dem Ende des WSF trafen sich ca. 500 Sozialistinnen und Sozialisten zu einem mehrtaegigen Seminar mit teilweise spannenden Analysen zu den Institutionen, die den neoliberalen Ausverkauf organisieren, zur Situation in Lateinamerika und Brasilien etc. Und nicht zuletzt begegneten sich Menschen, die sich ohne das WSF nie kennengelernt haetten.
 
La Plata/Argentinien 13.02.03

 

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