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Berichte

Viele in Bewegung

Das Dritte Weltsozialforum in Porto Alegre

(von Gert Eisenbürger, Informationsdienst Lateinamerika - Ausgabe Nr. 263)

100 000 Leute waren zum dritten Weltsozialforum nach Porto Alegre gekommen. Sie genossen die allenthalben in Brasilien herrschende Euphorie nach dem Wahlsieg Lulas von der linken Arbeiterpartei PT und diskutierten auf 1700 Workshops und mehreren hundert Podiums- und Großveranstaltungen über so ziemlich jedes Thema, das globalisierungskritische Menschen weltweit bewegt. Neben den „klassischen“ Themen wie der Ablehnung der Privatisierung von öffentlichen Unternehmen und Sozialsystemen, der Kritik an der Welthandelsorganisation WTO und dem geplanten Dienstleistungsabkommen GATS oder den Forderungen nach einem Schuldenerlass stand dieses Mal auch der Widerstand gegen eine Militärintervention im Irak im Mittelpunkt der öffentlichen Aktionen. Mit zwei großen Demonstrationen, einer zur Eröffnung des Forums und einer zweiten gegen die geplante Gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA am Abschlusstag, gingen die TeilnehmerInnen nach außen und vermittelten ihre Anliegen der Öffentlichkeit.

Die weitaus meisten TeilnehmerInnen – nach meinen Schätzungen etwa 70 Prozent – waren aus Brasilien gekommen, weitere 15-20 Prozent waren mit Bussen aus den Nachbarländern Argentinien, Uruguay und Paraguay angereist, der Rest per Flugzeug aus der ganzen Welt, vornehmlich aus Lateinamerika, Europa und Nordamerika (wobei die KanadierInnen mindestens so stark vertreten waren wie die US-AmerikanerInnen). Aus Afrika und Asien waren relativ wenige VertreterInnen gekommen, wenn auch deutlich mehr, als in den vergangenen beiden Jahren. Beim letzten Weltsozialforum hatte es einen Aufruf an internationale Hilfswerke und NRO gegeben, RepräsentantInnen afrikanischer und asiatischer Organisationen die Teilnahme zu ermöglichen. Dieser Aufruf fand erfreulicherweise einige Resonanz, u.a. auch bei den deutschen kirchlichen Hilfswerken, die einer Reihe ihrer ProjektpartnerInnen die Reise nach Porto Alegre finanzierten.

Aus Deutschland nahmen ungefähr 400 Menschen teil. Viele Leute von ATTAC und aus anderen linken Zusammenhängen waren auf eigene Kosten angereist; NRO und Hilfswerke hatten ihre MitarbeiterInnen geschickt, und die politischen Stiftungen (Friedrich-Ebert, Heinrich-Böll und Rosa-Luxemburg) hatten neben ihrem eigenen Personal zahlreiche GewerkschafterInnen, NRO-MitarbeiterInnen und kritische WissenschaftlerInnen nach Porto Alegre eingeladen. NRO-FunktionärInnen im Alter zwischen 30 und 60 Jahren dominierten zwar die Szene, es gab aber auch ein großes internationales Jugendcamp, zu dem ca. 30000 Leute aus Brasilien gekommen waren. Hier waren diejenigen, die Porto Alegre mit dem Bus erreichen konnten, unter sich. Über der riesigen Zeltstadt wehte der Geist von Woodstock, neben den Polit-Aktivitäten gab es allabendlich Parties und Konzerte mit allen Spielarten der zur Zeit im südlichen Lateinamerika angesagten Musik.

Die Bedürfnisse der TeilnehmerInnen am Weltsozialforum waren natürlich höchst unterschiedlich. Diejenigen, die zum ersten Mal da waren, wollten vieles erfahren oder lernen und auch die großen Namen mal in persona erleben. Diese Veranstaltungen mit den „Popstars“ der Bewegung, wie Uli Brand vom BUKO sie nannte, waren diesmal vorsorglich vom Haupttagungsort „Katholische Universität“ in die 20 000 ZuschauerInnen fassende Sportarena „Gigantinho“ verlegt worden. Aber auch die war überfüllt, als Noam Chomsky, Arundhati Roy, Eduardo Galeano, Leonardo Boff und Jean Ziegler anwesend waren. Wer nicht mindestens eine Stunde vor Beginn da war, hatte kaum Chancen, einen guten Platz zu ergattern.

Bei vielen TeilnehmerInnen gab es ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Identifikation und den Wunsch, ihre Idole zu feiern. Der Höhepunkt dafür war der Auftritt Lulas. Jetzt reichte nicht einmal das „Gigantinho“ aus, sondern nur ein Open-Air-Amphitheater, wo sich ca. 80 000 Menschen einfanden, um den „Genossen Präsident“ zu erleben. Und in der Tat war sein Auftritt beeindruckend. Mir wurde klar, wie es ihm gelingen konnte, über 60 Prozent der brasilianischen WählerInnen für sich zu gewinnen. Lula ist ein genialer Kommunikator, dem die Leute abnehmen, was er sagt. Als er beschwörend erklärte, vom Erfolg oder Misserfolg seiner Regierung hänge sehr viel ab, nicht nur für Brasilien, sondern für ganz Lateinamerika, hatten die meisten das Gefühl, einen historischen Moment zu erleben – und das nicht einmal zu Unrecht.

Um Lulas Aufritt hatte es einige Diskussionen im Vorfeld gegeben, da es eigentlich nicht vorgesehen ist, dass Staatsoberhäupter oder Regierungsmitglieder auf dem Weltsozialforum auftreten. Im brasilianischen Vorbereitungskomitee wurde entschieden, eine Ausnahme zu machen, weil Lula von Anfang mit den Foren verbunden gewesen sei. Keine Ausnahme wurde dagegen für Hugo Chávez gemacht. Der war auch nach Porto Alegre gekommen, einen offiziellen Auftritt beim Forum lehnten die Organisatoren aber ab. So organisierte das brasilianische Solidaritätskomitee mit Venezuela eine Kundgebung mit Chávez, an der einige tausend Leute, überwiegend aus traditionalistischen linken Zusammenhängen, teilnahmen.

Natürlich gab es auch die, die zum zweiten oder dritten Mal dabei waren: Die internationale NGO-Community, aber auch andere Akteure wie Gewerkschaften, Via Campesina (die internationale Koordination kleinbäuerlicher Organisationen), ATTAC, Berufsverbände oder ParlamentarierInnen. Sie alle nutzten das Weltsozialforum, um sich international zu vernetzen und bei Workshops laufende Debatten zu vertiefen und voranzutreiben. Teilweise in diesem Rahmen, teilweise im Vorfeld gab es ein Internationales Forum für Bildung und Erziehung, ein Gesundheitsforum, ein WeltparlamentarierInnenforum, ein internationales Treffen linker KommunalpolitikerInnen, ein Treffen kritischer JuristInnen, eine Weltkonferenz von Via Campesina, eine ganze Reihe von Gewerkschaftstreffen, wo sich neue Zusammenhänge und internationale Betriebsräte konstituierten.

Darüber hinaus gab es zahlreiche andere Konferenzen, vor allem im Umweltbereich, die auf bestehende Netzwerke zurückgriffen und neue konstituierten. In solchen Workshops fanden die Diskussionen und Debatten statt, die sich in konkreter Arbeit vor Ort niederschlagen können und teilweise eine neue Qualität in der Arbeit ermöglichen, so z.B. im Gewerkschaftsbereich: Die internationalen gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse sind bislang überwiegend bürokratische und wenig demokratische Strukturen, von denen kaum Impulse für eine internationalistische Gewerkschaftsarbeit ausgingen. Die Treffen von GewerkschafterInnen aus den gleichen Konzernen und Branchen in Porto Alegre bieten dagegen die Chance für eine internationale Zusammenarbeit der KollegInnen, die bei konkreten Kämpfen in den Betrieben wirksam werden kann. (vgl. dazu den Beitrag von Gaby Weber „Internationale gewerkschaftliche Demokratie“ in der ila 263)

Das dritte Weltsozialforum fand eine relativ breite Medienresonanz, sowohl in Brasilien als auch international. Nicht wenige TeilnehmerInnen verwechselten die relativ freundliche Presse mit realer Stärke der Bewegung. So waren etwa bei dem Abschlusstreffen der deutschen TeilnehmerInnen im Goethe-Institut zahlreiche Stimmen zu hören, die behaupteten, an der globalisierungskritischen Bewegung käme nun niemand mehr vorbei. In den deutschen Medien sei über das Weltsozialforum genauso breit berichtet worden wie über das Weltwirtschaftsforum in Davos (wohin Lula übrigens unmittelbar nach seiner Rede in Porto Alegre aufgebrochen war) und die Berichte seien überwiegend positiv gewesen. Hier ist die Bewegung meines Erachtens dabei, in eine Falle zu tapsen: Aktuell positive Medienresonanz ist zwar ganz nett, kann die Arbeit erleichtern, weil die Leute offener für unsere Anliegen werden, darf aber um Himmels Willen nicht mit wirklicher Macht verwechselt werden.

Nach langen Jahren der Stagnation erfahren linke Bewegungen in jüngster Zeit einen gewissen Aufschwung, weil weltweit die Zahl derer wächst, die den Eindruck haben, dass die wirtschaftspolitischen Rezepte des modernen Kapitalismus für immer mehr Menschen Armut und den Verlust von sozialen Sicherheiten und Rechten bedeuten. Das heißt aber noch lange nicht, dass diese (möglicherweise) entstehende Bewegung schon in der Lage wäre, den neoliberalen „Modernisierern“ und Zerstörern der Sozialsysteme wirksamen Widerstand entgegen zu setzen oder sie gar an ihrem Handeln zu hindern. In Europa sind fast überall konservative Regierungen an der Macht, und die wenigen sozialdemokratischen sind eifrig dabei, die Sozialsysteme und Arbeiternehmerrechte auszuhöhlen oder – neudeutsch – „umzubauen“.

Schließlich sollte man bei aller Begeisterung darüber, dass 100 000 Gleichgesinnte zusammenkamen, dass spannende Diskussionen geführt wurden, fröhliche bunte Demos stattfanden und eine offene und herzliche Atmosphäre herrschte, nicht vergessen, dass politische Arbeit primär vor Ort in der eigenen Region stattfindet. Große internationale Events, können zwar vorübergehend vergessen lassen, wie minoritär man zu Hause ist, aber eben nur das. Das mussten etwa die ZapatistInnen erleben, die tolle internationale Treffen und Aktionen organisiert hatten und weltweit Menschen für ihre Sache begeistern konnten, und dann merkten, dass ihnen in Mexico die politische Unterstützung fehlte, die sie gebraucht hätten, um das ausgehandelte „Ley Indígena“ politisch durchzusetzen.

Bleibt die Hoffnung, dass die Leute etwas für ihre Arbeit mit nach Hause nehmen. Beim Rückflug auf dem Flughafen von Rio wartete am Gepäckband auch eine Gruppe von etwa zwanzig US-amerikanischen Forum-TeilnehmerInnen, überwiegend im Rentenalter. Als sie ihre Koffer hatten, gingen sie zusammen aus der Gepäckhalle und sangen dabei die Internationale – laut und amerikanisch. Andere Reisende und das Sicherheitspersonal waren sichtlich irritiert. So schön kann Internationalismus sein.

 

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