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Berichte

Weltsozialforum 2005 – Schritte und Perspektiven

Chico Whitaker, Vertreter der Brasilianischen Kommission Gerechtigkeit und Frieden im Sekretariat und im Internationalen Rat des Weltsozialforums

Das V. Weltsozialforum 2005 in Porto Alegre hat sich als größte globale politische Initiative dieses Jahrhunderts konsolidiert. 2004 stellte die Durchführung des WSF in Indien, einem kulturell und historisch völlig anderen Land als Brasilien, eine große Herausforderung dar, die mit Bravour gemeistert wurde. Auf der Basis dieses Erfolges auf der anderen Seite der Welt, stellte sich dem WSF 2005 eine neue Aufgabe: Die in Indien gemachten Erfahrungen zu nutzen und die im Laufe der Jahre angebahnte Entwicklung einer neuen, die Vielfalt und Pluralität achtenden, demokratischeren und kreativeren  politischen Kultur zu festigen. In diesem Sinne hat das WSF 2005 de facto einen weiteren Schritt vollzogen.

Man darf nicht erwarten – was jedoch viele immer wieder tun – dass das WSF eine Rolle erfüllt, die den gesellschaftlichen Bewegungen zukommt: Ihre AnhängerInnen zu mobilisieren, Ziele zu setzen und für ihre Durchführung zu kämpfen. Das Forum an sich ist kein politisches Subjekt, das direkten Einfluss auf die Wirklichkeit nimmt. Es ist nur ein Instrument, das sich als helfende Instanz in den  Dienst der Organisationen stellt, die diese Realität durch ihr Wirken verändern können. Die Welt zu verändern ist Aufgabe der  organisierten Gesellschaft, als politisch aktiver Teil, dessen Macht bis vor kurzem nicht anerkannt wurde, da Parteien und Regierungen den gesamten politischen Spielraum besetzt hielten.

Als ein solches Instrument bietet das Forum diesen Organisationen die Möglichkeit konkreten  Lernens einer nicht dirigistischen, horizontalen und partizipationsorientierten politischen Praxis – sozusagen das Markenzeichen des Forums. Es stellt somit einen Spielraum  für die gegenseitige Anerkennung, den Erfahrungsaustausch und die Intensivierung der Zusammenarbeit dar, mit dem Ziel neue, für die politische Veränderung leistungsfähigere Initiativen zu schaffen und bestehende zu erweitern. Diese Effizienz hängt auch in hohem  Maße von der Schaffung einer Einheit neuen Typs ab, in der die Autonomie jedes politischen Subjekts gewahrt bleibt, die Hindernisse jedoch, die heute die unterschiedlichen sozialen Bewegungen,  NGO´s und Gewerkschaften in sich und unter sich spalten und dadurch schwächen, überwunden werden.

Unter der Perspektive die Praxis des politischen Handelns auf vielfältige Weise neu zu gestalten, war 2005 der erste und vielleicht wichtigste Schritt auf dem vor fünf Jahren begonnenen Weg - dessen Entwicklung von den Organisatoren in keiner Weise vorausgesehen werden konnte - die Entscheidung für die Durchführung des Forums in vollständiger Selbstverwaltung. 2004 in Indien wurde schon ein wichtiger Schritt auf diesem Weg der Beteiligung getan: Von den über 1200 Veranstaltungen wurden nur 13 von den Organisatoren ausgerichtet. 2005 in Brasilien haben die Organisatoren ihre eigenen Veranstaltungen auf Null zurückgefahren. Somit haben sie voll und ganz ihrer Funktion Rechnung getragen, einen Raum zu vermitteln und anzubieten, der für alle Menschen und Gruppen offen steht, die sich weltweit für den Aufbau einer „anderen möglichen Welt“ engagieren. Eine Welt, von der wir alle träumen.

Um die von den Teilnehmenden gewünschten Fragen und Themen herauszufinden, wurde zunächst eine Umfrage gemacht. Im Ergebnis standen dann 11 Themenkomplexe. Die Veranstaltungsinfrastruktur umfasste dann – neben Verpflegungs- und Unterbringungslogistik - die Einrichtung von über 250 Versammlungsräumen und die Organisation eines  im Rahmen des Möglichen funktionierendes Übersetzungssystem  Damit wurden Optionen verstärkt, die sich für die Durchführung der Ziele des Forums als geeigneter herausstellten: Die Öffnung dieses Raumes für die von den Teilnehmenden selbst  ausgewählten Aktivitäten für einen gemeinsamen Dialog und die Realisierung neuer Bündnisse.

Diese sehr grundlegende Charakteristik wurde durch das Programm des WSF 2005 noch verstärkt: Es sah  keine großen Vorträge großer Stars vor. Die dann doch realisiert wurden, waren von den Teilnehmenden selbst organisiert – zum Beispiel der publikumswirksame Auftritt von Saramago oder auch die Reden der Präsidenten Lula und Chaves . Keiner ist von den Organisatoren des Forums eingeladen worden. Sie kamen auf Einladung der Organisationen, die die  Regel der Selbstverwaltung angenommen hatten. Auch haben sich die einladenden Organisationen entschlossen, diese Veranstaltungen, aufgrund der Anziehungskraft der beiden Präsidenten, aus dem „Weltsozialterritoriums“ – wie das Gelände des Forums genannt wurde – in den nahe gelegenen Sportpalast „Ginásio do Gigantinho“ auszulagern. Die Mietkosten mussten sie selber tragen.

Wir können jetzt mit Fug und Recht behaupten, dass diese radikale Option für die eigenständige Organisation der Veranstaltungen erfolgreich gewesen ist. Das WSF 2005 wurde von der Mehrheit der teilnehmenden Organisationen und Gruppen als das Beste der bisher veranstaltenden Foren bezeichnet. Das lag unter anderem daran, weil es bei diesem Forum vielen gelungen ist, entscheidende Fortschritte in der Herstellung von Kooperationen und Partnerschaften auf dem Weg seit dem ersten Forum zu machen. So z.B. bei den Organisationen die das Menschenrecht auf Wasser fordern. Ebenso bei jenen, die für die Streichung der Auslandsschulden der Länder der Dritten Welt kämpfen – diesen ist es gelungen, ihre Differenzen zu benennen, bei ihrer Überwindung voranzukommen und neue gemeinsame Aktionspläne zu entwickeln. Zahlreiche Kämpfe sozialer Bewegungen – z.B. gegen die ALCA  – haben einen Fortschritt bei der Vernetzung erreicht. Das gleiche gilt für diejenigen, die neue Ansätze und Initiativen zur Reform der Vereinten Nationen entwickelt haben, um die UNO in ihren verschiedenen Rollen effektiv zu machen, wie z.B. die Wahrung des Friedens in der Welt – eine ihrer notwendigsten Funktionen in der heutigen Zeit.

Dieses Erfolgsgefühl ist jedoch auch zurückzuführen auf die große Zahl neu geschlossener, größerer und kleinerer Bündnisse und Partnerschaften, die ihren Ausdruck fanden in den 352 auf der Abschlussveranstaltung des Forums vorgestellten „Aktionsvorschlägen für eine andere Welt“. Danach wurden noch weitere eingebracht, so dass es heute über 400 sind – Spiegel der Vielfalt von Aktionen, die für die Realisierung dieses Projekts nötig sind.

Diese Art von Ergebnis verlangt die Betrachtung eines Aspekts, der häufig zu Missverständnissen über die Eigenschaft des Forums als Spielraum und nicht als Zielbewegung führt. Viele Menschen leiden unter der Dringlichkeit der zu entwickelnden Aktionen und schließen daraus, dass das Forum am Ende konkrete Richtlinien für die zu führenden Kämpfe dokumentieren sollte. Notwendig jedoch ist, dass wir dafür sorgen, dass unsere eigenen Organisationen sich dieser Dringlichkeit stellen und ihre Möglichkeiten wahrnehmen, anstatt zu verlangen, dass das Forum zu  einer weiteren Bewegung wird, die in Konkurrenz zu den vielen anderen stehen und ihre ureigenste Rolle nicht mehr erfüllen würde.

Aus diesem Grund verwehrt die Charta der Prinzipien des Forums sozusagen die Veröffentlichung eines einzigen Schlussdokuments – das zwangsläufig die Unterschiedlichkeit der auf dem Forum behandelten Fragen reduzieren und die aus diesen Diskussionen folgenden Perspektiven und Engagements einschränken muss. Diese Charta zeigt die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit zahlreicher Schlussdokumente auf, welche konkrete Durchführungsideen derjenigen, die sie ankündigen, beinhalten für Aktionen, die nicht nach dem Forum beginnen, sondern bereits vorher im Gange waren und danach weitergehen werden für eine – bereits laufende – Veränderung der Welt.

Im Grunde genommen geht es bei dem Forum nicht so sehr darum, über Utopien zu diskutieren, sondern darum, eine Bestandsaufnahme dessen zu leisten, was schon gemacht wird, um sie umzusetzen mit dem Ziel dieses Handeln kontinuierlicher und effektiver zu gestalten und das Engagement jeder Organisation zu verstärken. Aus der Kraft, die aus der so in Vielfalt geschaffenen Einigkeit erwächst, entsteht dieses neue politisch handelnde Subjekt – auch planetarische Zivilgesellschaft genannt wird.

Es ist jedoch offensichtlich, dass auch beim WSF 2005 die Option des Forums als Spielraum nicht unwidersprochen blieb. Die politische Kultur der Machtpyramiden, der kämpferischen Disziplinen und sogar der „ausschließlichen“ Gegenmeinungen zu Davos läuft immer wieder Sturm gegen die in der Prinzipien-Charta vorgestellte Option. So lässt sich, z.B. die Veröffentlichung auf diesem Forum des „Manifestes von Porto Alegre“ erklären, dessen Autoren zwar behaupten, kein Schlussdokument formulieren zu wollen, es jedoch so genannt haben. Diese Uneindeutigkeit führte zu Protesten unter den anderen Teilnehmenden gegen diese Initiative, die ja nur einen der 352 Aktionsvorschläge darstellte, auch wenn sie von 19 hochgeachteten Persönlichkeiten unterzeichnet wurde. Diese Reaktion zeigt jedoch, dass die Teilnehmenden sich bereits der Notwendigkeit bewusst sind, die althergebrachten Modelle politischer Aktion zu überwinden, die Abhängigkeiten von erleuchteten Führern erzeugen und die auf dem WSF 2005 Lula viele Buhrufe und Chaves viel Applaus eingebracht haben.

Nicht alle Meinungen waren jedoch immer so positiv oder auch begeistert, wie ich sie bisher skizziert habe. Wer zum WSF gefahren ist, um Informationen zu bekommen, Diskussionen zu verfolgen, Wort und Zeugnis von international anerkannten Intellektuellen oder Aktivisten zu hören, wurde auch enttäuscht. Vielleicht war die eine oder andere Erfahrung in dieser Hinsicht durchaus positiv. Aber für alle, auch für jene, die sich durchweg begeistern konnten, bedeutete dieses WSF rein physisch eine Höchstbelastung. Es gab viele organisatorische Unzulänglichkeiten. Das allerdings war voraussehbar angesichts der 150.000 BesucherInnen – 50.000 mehr als 2003 in Porto Alegre und 2004 in Indien – und dem Risiko, es in einem völlig neuen eigens für diesen Zweck erschlossenen Gelände an den Ufern des Guaíba-Sees  stattfinden zu lassen, anstatt in den modernen und gut ausgestatteten Räumlichkeiten des Kongresszentrums der Katholischen Universität von Porto Alegre.

In diesem Zusammenhang sind die biotechnologischen baulichen Erfahrungen und andere umweltschonende Maßnahmen erwähnenswert. Aber unzureichende Beschilderung und Kommunikationsmittel sowie Mängel in der Bekanntmachung des Veranstaltungsprogramms erschwerten den Interessierten den Zugang zu den Veranstaltungszelten, in denen teilweise die Ventilatoren nicht funktionierten und die sich über eine zu weitläufige – zwar landschaftlich durch den See und die dargebotenen Sonnenuntergänge anziehende -  Strecke verteilten. Die fast ausschließlich zu Fuß, unter einer fast immer sengenden Sonne zu bewältigenden Entfernungen machten die Teilnahme an diesem Forum sozusagen zu einer Heldentat. Trotzdem war auch immer Freude präsent. Und die Wahl der Lokalitäten hat zumindest die Teilnahme der 35.000 jungen Menschen erleichtert, die sich im Internationalen Jugendlager (das auch von ihnen selbstverwaltet wurde) zusammengefunden haben. Außerdem stellte das WSF 2005 eine größere Nähe zu der Bevölkerung von Porto Alegre her.

Bei dieser Bevölkerung hatten allerdings die Wahlergebnisse von 2004 zu Missverständnissen geführt: Nachdem entschieden war, dass das Forum 2006 nicht in Porto Alegre stattfinden würde, hielt sich das Gerücht, dass der Ausgang der Wahl für den „Wegzug“ des Forums aus Porto Alegre verantwortlich sei – als ob seine Durchführung von Regierungen und Parteien abhinge.  In Wirklichkeit reifte die Entscheidung schon seit dem WSF 2004 im Mumbay, das WSF 2006 dezentralisiert – zunächst in Marokko und in Venezuela zum Zeitpunkt von Davos – und 2007 in Afrika durchzuführen. Das Ziel ist es, den Prozess auf die ganze Welt auszudehnen und ihn dort zu verankern. Und nichts sollte uns daran hindern, das WSF 2008 wieder in seiner Geburtsstadt stattfinden zu lassen.

Die nächsten Schritte auf dem Weg der zur Vorbereitung des WSF 2005 angewandten „Methodologie“ der Anregung zu Treffen, Bündnissen und Gruppen im Vorhinein sind vielversprechend.  Die Überlegungen in diesem Sinne weiterzuentwickeln, wird Aufgabe auf der nächsten Sitzung des Internationalen Rats des WSF, Ende März in den Niederlanden sein. Sie sehen die Schaffung einer Art ständigen Dialogs vor, bei dem der Erfahrungsaustausch, die gegenseitige Anerkennung, die Vernetzung zur Stärkung von Initiativen und zur Planung neuer Aktionen intensiver und  organisierter über das Internet laufen könnten, unabhängig von großen Veranstaltungen. Diese könnten von Zeit zu Zeit als allgemeine, thematische oder auch Präsenztreffen stattfinden, und zwar auf den verschiedensten Ebenen – international, regional, national oder auch lokal – mit dem Ziel laufende Kooperationen und Aktionen zu konsolidieren. Wenn uns dies gelänge im Sinne der Gewährleistung von Kontinuität und Ausbreitung eines pluralistischen nicht-dirigistischen transformierenden Handelns, wäre  es wirklich möglich, die Welt zu verändern  auf einem Weg, der zu dem führt, was wir alle wünschen: Frieden, Gleichberechtigung und Geschwisterlichkeit.

Bei Interesse, etwas mehr über die auf dem WSF über das Forum diskutierten Perspektiven zu erfahren, empfehle ich  mein auf dem WSF 2005 vorgestelltes Buch „Die Herausforderung des Weltsozialforums – Eine Sichtweise“ (Ed. Perseu Abramo e Loyola, 2005).

(Übersetzung: Elsmarie Pape)

 

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