Berichte
Die Weltbürgerbewegung übt Selbstkritik
Das Sozialforum will sich in der arabischen Welt erneuern
(von Gerhard Dilger, Neues Deutschland)
Das Weltsozialforum will nicht in Routine erstarren. Das Treffen der Globalisierungskritiker in Porto Alegre, das am Sonntagabend mit einem Appell für eine gerechtere Globalisierung zu Ende ging, zog eine kritische Bilanz der diesjährigen Begegnungen in der brasilianischen Stadt. Neuen Schwung will man sich an einem neuen Ort, beispielsweise in Tunesien, holen.
Das Weltsozialforum (WSF) zieht weiter. In seiner Sitzung am Sonntag bekräftigte der Internationale WSF-Rat, dass das Großereignis, das seit 2005 nur alle zwei Jahre stattfindet, 2013 in der arabischen Welt organisiert werden soll. »Eigentlich hatten wir den Großraum Kairo anvisiert, aber wegen der politischen Instabilität ist das so gut wie unmöglich«, sagte Ratsmitglied Francisco »Chico« Whitaker. »Jetzt liegt der Vorschlag Tunesien auf dem Tisch, und vorher sollen in Marokko und Ägypten regionale Foren stattfinden.«
Zé Correa aus São Paulo, der in Porto Alegre die konzeptionellen Arbeitsgruppen koordinierte, fügte hinzu: »In Nordafrika wäre das Forum sehr viel nützlicher.« In der Tat waren beim jetzigen »Thematischen Sozialforum« in der südbrasilianischen Großstadt die Verschleißerscheinungen unübersehbar. Selten standen Aufwand und Ergebnis in einem krasseren Missverhältnis. Den Löwenanteil der Finanzierung übernahmen brasilianische Regierungsstellen - umgerechnet drei Millionen Euro sollen es gewesen sein. Von einer Unabhängigkeit der »Zivilgesellschaft« kann also weniger denn je die Rede sein.
Kein Wunder, dass sich die sozialen Bewegungen aus Brasilien reserviert wie selten zuvor gaben, allen voran die Landlosenbewegung. Optisch dominierten Gewerkschafter, die sich jedoch mit unbequemen Forderungen zurückhielten. Celso Woyciechowski vom lokalen Organisationskomitee sprach von 40 000 Teilnehmern - die wenigsten von ihnen dürften allerdings fünf Tage lang in Porto Alegre geblieben sein.
Auch unter den Veteranen wachsen die Zweifel. Unumwunden räumte Whitaker grobe Planungsfehler ein und kündigte eine umfassende Selbstkritik an. »Wahrscheinlich könnte man mit demselben finanziellen Aufwand dezentral viel mehr erreichen«, meint Kathrin Buhl von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo. »Wie sinnvoll ist es, dass auf vielen Parallelveranstaltungen immer dieselben Leute diskutieren, ohne dass ein echter Austausch oder gar eine Synthese stattfindet?« Sie spielt auf die nicht sonderlich originelle »Erklärung der sozialen Bewegungen« an, die im Aufruf zu einem weltweiten Aktionstag gegen den Kapitalsmus am 5. Juni mündet. Interessant sei hingegen die konzeptionelle Anstrengung in den thematischen Arbeitsgruppen, in denen etwa hundert Aktivisten und Intellektuelle an einem Gegenentwurf zum UN-Umweltgipfel »Rio+20« im Juni arbeiteten. »Aber brauchen wir dafür wirklich ein Weltsozialforum?« fragt Buhl.
In ihrem Entwurf, der demnächst im Internet zu finden ist, üben die Forumsdenker scharfe Kritik am Leitbegriff der Green Economy. Er sei nur eine Wiederholung der »phantastischen Versprechungen, dass durch Marktmechanismen und technische Lösungen eine »nachhaltige« Welt möglich sei, schreiben sie. Markt und Staat hingen gleichermaßen dem Fortschritts- und Wettbewerbsdenken an - einem Entwicklungskonzept, das die Zerstörung der Erde zur Folge habe. Der »grüne Kapitalismus«, für den die Staatengemeinschaft beim UN-Umweltgipfel »Rio+20« im Juni werben wolle, sei kein Ausweg aus der derzeitigen Wirtschafts- und Umweltkrise.
Sie fordern ein kollektives Management der »Commons« - der Gemeingüter -, zu denen neben den natürlichen Ressourcen auch Bildung, Gesundheit, Transport, Energie und Kommunikation gehören. Durch die digitalen Technologien werde zudem eine »radikale Demokratisierung von Politik und Wirtschaft« erleichtert - ganz ähnlich formulierte das der Musiker und ehemalige Kulturminister Gilberto Gil. Auch der portugiesische Soziologe Boaventura Souza Santos plädiert angesichts von Zivilisationskrise und »technokratischen Demokraturen« in Griechenland und Italien für »grenzenlose Demokratie, nicht nur in den Institutionen, sondern auch am Arbeitsplatz und zu Hause«.
»Bei Kleinbauern, Indigenen, bei Wohnrauminitiativen oder im digitalen Milieu gibt es viele funktionierende Beispiele für die Commons«, erläutert Silke Helfrich, die treibende Kraft dieses Ansatzes, der nun als konzeptionelle Leitplanke dient. Bis Juni wollen die Koordinatoren der Arbeitsgruppen an ihrem Papier weiterstricken.
Auch Brasiliens frühere Umweltministerin Marina Silva kann mit dem Regierungsentwurf zu »Rio+20« wenig anfangen. Die soziale Ungleichheit werde dabei ebenso unterschlagen wie die erforderliche Einrichtung einer UN-Umweltorganisation, sagte sie dem »nd«, »offenbar sollen wegen der Weltwirtschaftskrise die Erwartungen an »Rio+20« gedämpft werden«. Sie drängt auf konkrete Schritte: »Wir brauchen doch nicht alle Antworten vorher zu wissen, um anzufangen.«