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Von den Wiederständen zu den Alternativen: ein geschichtlicher Blick auf die Bewegung für eine andere Welt

von Eric Toussaint, CADTM („Comité pour l´Abolition de la Dette du Tiers Monde», Komitee zur Streichung der Schulden der Dritten Welt)

Zwei große Tendenzen stehen sich auf der internationalen Ebene entgegen

(Eric Toussaint ist Präsident der internationalen Organisation CADTM („Comité pour l´Abolition de la Dette du Tiers Monde», Komitee zur Streichung der Schulden der Dritten Welt), www.cadtm.org. Er ist Mitglied des Internationalen Rats des WSF und vom wissenschaftlichen Beirat von Attac Frankreich.)

Die derzeit dominierende Richtung, am Werk seit 25 bis 30 Jahren, besteht in der Fortführung der neoliberalen und imperialistischen Offensive des Kapitalismus. Diese hat sich in den letzten Jahren hervorgetan durch den immer häufiger werdenden Rückgriff auf imperialistische Kriege, besonders zur Eroberung von Ölfeldern, durch die Aufrüstung der Groβmächte, durch die verstärkte Marktöffnung der von ihr dominierten Staaten, durch die Verallgemeinerung von Privatisierungen, durch einen systematischen Angriff auf die Löhne und die kollektiven Sicherungssysteme, die sich die Arbeiter erkämpft haben. All das ist Bestandteil des Washington Consensus. Diese Politiken werden gleichermaβen in den industrialisierten wie in den sich entwickelnden Ländern angewandt.

Eine Gegenbewegung, wenn auch noch sehr schwach auf globaler Ebene, entwickelt sich seit Ende der 90er Jahre. Sie macht sich auf verschiedene Weise bemerkbar:

  • Die Wahl von Präsidenten, die einen Bruch mit dem Neoliberalismus versprechen (dieser Zyklus hat mit der Wahl von Hugo Chavez Ende 1998 begonnen) oder wenigstens eine Einhegung desselben ;
  • die Aussetzung der Rückzahlungen der öffentlichen Auslandsschulden an private Gläubiger durch Argentinien von Ende Dezember 2001 bis März 2005 ;
  • die Verabschiedung neuer demokratischer Verfassungen durch verfassungsgebende Versammlungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador ;
  • die Stärkung ziviler und politischer Freiheiten und Fortschritte bei der Garantie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ;
  • der Beginn der Wiederherstellung der staatlichen Kontrolle über groβe öffentliche Unternehmen (wie das venezolanische Erdöl PDVSA (1) ), die natürlichen Ressourcen (wie Wasser, Erdöl und Erdgas in Bolivien) und über die Grundversorgung (wie Produktion und Verteilung von Strom; Telekommunikation in Venezuela);
  • das Aufbrechen der Isolierung Kubas; das Scheitern von ALCA (des Freihandelsvertrages, den Washington dem gesamten amerikanischen Kontinent aufzwingen wollte) ;
  • der Start von ALBA (bolivarische Alternative in Amerika) und die Entwicklung von Handels- und Austauschabkommen zwischen Venezuela, Kuba und Bolivien … ;
  • den Ausbau von Petrocaribe, die es den nicht-erdölexportierenden Staaten der Karibik gestattet, venezolanisches Erdöl 40 Prozent unter Weltmarktpreis zu kaufen ;
  • der Ausstieg Boliviens aus ICSID (Internationale Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten, Schiedsgericht der Weltbank über Investitionen) ;
  • die Ausweisung des ständigen Vertreters der Weltbank aus Ecuador ;
  • die Ankündigung Ecuadors, 2009 die US-Basis in Manta aufzulösen ;
  • der Start der Bank des Südens.

Diese Gegenbewegung wäre nicht zu verstehen ohne die starken Massenmobilisierungen, die sich seit den 1980er Jahren in Lateinamerika der neoliberalen Offensive an verschiedenen Stellen des Planeten entgegen gestellt haben (April 1985 in Santo Domingo, Februar 1989 in Caracas) und die seither regelmäβig stattgefunden haben.

Dass Kuba überlebt hat, trotz der Blockade und der Angriffe aus Washington, hat ebenfalls zur Geburt dieser Gegenbewegung beigetragen. Denn die Insel ist der lebende Beweis dafür, dass man der mächtigsten Wirtschafts- und Militärmacht der Welt die Stirn bieten kann.

Der Widerstand, auf den der Imperialismus im Irak, in Palästina und in Afghanistan trifft, spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle, denn solange die USA eine riesige Militärpräsenz im Mittleren Osten und in Zentralasien aufrecht erhalten müssen, ist eine direkte Militärintervention in Lateinamerika (2) schwierig.

Wir stehen kurz vor dem Jahr 2015, bis zu dem die bescheidenen Milleniumsziele der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2003 (3) erreicht sein sollen : nur eine Handvoll Jahre trennt uns von diesem Datum und das Panorama, das sich bietet, ist sehr beunruhigend. Ganz offensichtlich verschlechtern sich die Lebensbedingungen für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung sowohl in den industrialisierten Ländern wie in anderen Teilen der Welt.

Diese Verschlechterung umfasst die Einkommen, die Beschäftigung, die Gesundheit, die Ernährung, die Umwelt, die Bildung und den Zugang zur Kultur.

Sie betrifft die Ausübung der Grundrechte der Individuen sowie der Gemeinschaften.

Die Verschlechterungen sind auch sichtbar auf der Ebene des ökologischen Gleichgewichts, in den Beziehungen zwischen den Staaten und ihren Bürgern, am Rückgriff der Groβmächte auf militärische Aggression.

Die USA sind nicht die alleinigen Aggressoren, sie haben Verbündete in Europa, die sich am Krieg im Irak und in Afghanistan beteiligt haben – oder noch immer aktiv beteiligt sind. Nicht zu vergessen den Staatsterror, den die israelische Regierung besonders gegen die Palästinenser ausübt, und die Intervention der russischen Armee in Tschetschenien.

Die Zeichen der Barbarei zeigen sich jeden Tag vor unseren Augen

Waren, Dienstleitungen, Kapital und Informationen zirkulieren ungehindert über den ganzen Planeten, während man die Menschen aus den verarmten Ländern daran hindert, in die reichen Staaten zu gelangen. Waren und Kapital die volle Bewegungsfreiheit zuzuerkennen und diese aber den Menschen zu verweigern, ist ein Ausdruck der derzeitigen Barbarei. In Westeuropa und in den USA, und das ist besonders abstoβend, wird Asylsuchenden die Gerechtigkeit verwehrt. Es ist widerwärtig, wie zahlreiche Politiker, auch linke, der Parole zustimmen, dass man nicht das ganze Leid der Welt auffangen könne und dass es somit letztlich legitim sei, das Recht auf Asyl in den Ländern des Nordens massiv abzubauen, und abgewiesene Asylbewerber kollektiv abzuschieben oder ihnen den Zutritt zum jeweiligen Territorium zu verweigern. Denken wir an die, die erschossen wurden, als sie 2005 versucht haben, in den spanischen Enklaven in Marokko die Grenzen der EU zu überwinden. Erinnern wir uns an die Tausenden von Menschen, die ihr Leben verlieren beim Versuch, die Meerenge von Gibraltar zu überqueren oder die Kanarischen Inseln zu erreichen. Das ist natürlich nicht nur ein europäisches Phänomen. Man weiβ, was sich an der Südgrenze der USA am Rio Grande abspielt.

Währenddessen erreicht die Konzentration des Reichtums in den Händen einer winzig kleinen Minderheit der Weltbevölkerung nie dagewesene Ausmaβe in der Geschichte der Menschheit. Einige tausend Kapitalbesitzer aus Amerika, Europa, China, Indien, Afrika häufen einen Reichtum an, der das Jahreseinkommen der Hälfe der Menschen auf dem Planeten übersteigt. Auch das ist Barbarei. Die Kluft zwischen den reichen und den verarmten Ländern klafft immer weiter auseinander. Das ist nicht zu akzeptieren.

Diese Verschlechterungen und die Verweigerung der Gerechtigkeit können nicht beseitigt werden ohne einen politischen Kurswechsel

2015 ist das Zieldatum für die Milleniumsziele, die viel zu bescheiden sind und nicht an den Wurzeln der Probleme rühren: der ungleichen Verteilung des Reichtums und der Logik des privaten Profits.

In zahlreichen Ländern nähert man sich nicht den Milleniumszielen, man entfernt sich sogar von ihnen. Diese Tatsache ist sehr beunruhigend, und deshalb muss man sich fragen, ob es Kräfte gibt, die mächtig genug sind, die derzeitige historische Tendenz umzukehren.

Diese historische Tendenz hat vor über 30 Jahren begonnen, vor einer Generation.

Der Staatsstreich des Militärs unter Pinochet in Chile 1973 diente als Labor für die Installation der neoliberalen Politik, die sich seither immer weiter ausgebreitet hat, in Westeuropa mit Margaret Thatcher 1979, in Nordamerika während der Präsidentschaft von Ronald Reagan 1981-1988, und auf dem Rest des Planeten besonders mit der Wiederherstellung des Kapitalismus in Russland und China.

Das Auftauchen der historischen Gegenkräfte

Gibt es historische Kräfte, die in der Lage sind, sich der zunehmenden Macht des Neoliberalismus entgegen zu stellen? Die Antwort ist Ja.

Während manche deren Ursprung in der Schlacht von Seattle gegen die WTO 1999 sehen, scheint es doch angemessener, einige frühere Daten in Betracht zu ziehen als Marksteine auf dem Weg des Widerstandes gegen die neoliberale Globalisierung.

Das Jahr 1989 ist in diesem Zusammenhang wichtig: in erster Linie wird es als das Jahr wahrgenommen, in dem die Berliner Mauer gefallen ist, was dem Jahr sicher historische Bedeutung gibt. Der Fall der Mauer entsprach dem Ende einer Karikatur des bürokratischen und stalinistischen Sozialismus, einer völlig abwegigen Version des Sozialismus, der vielmehr ein emanzipatorisches Projekt ist. Aber 1989 ist auch das Jahr, in dem sich am 27. Februar in Venezuela die Massen gegen den Strukturanpassungs-maβnahmen erhoben, die der IWF mit dem dortigen Regime ausgeheckt hatte. Die Veränderungen der letzten 10 Jahre in Venezuela sind nur vor dem Hintergrund dieses Datums zu verstehen. 1989 wurde auch der 200. Jahrestag der Französischen Revolution begangen, und in diesem Jahr gelang in Paris eine beeindruckende Mobilisierung gegen den G7-Gipfel, die sich für eine Streichung der Schulden der Dritten Welt einsetzte (4).

Der zweite groβe Markstein für den wachsenden Widerstand gegen den neoliberalen Kapitalismus war 1994. Drei wichtige Dinge sind in diesem Jahr passiert :

1. Am 1. Januar 1994 brach in Chiapas die zapatistische Revolution aus. Dort schaffte sich ein Akteur Beachtung, der sich seit Jahrhunderten gegen die spanischen Besatzer gewehrt hatte und gegen die Unterdrückungsregime, die ihnen gefolgt waren. Die Indigenas (die Mayas) stellten grundsätzliche Forderungen. In einer universellen Sprache haben sie sich an den gesamten Planten gewandt mit der Stimme des Subkommandanten Marcos. Das geht weit über seine Person und seine persönlichen Eigenschaften hinaus. Marcos wurde zum Ausdruck einer tiefer greifenden Bewegung, denn die Indios in Chiapas waren mit ihrem Kampf nicht allein: in Ecuador haben sich die Indigenas zur Vereinigung der indigenen Nationen von Ecuador (CONAIE, www.conaie.org) zusammengeschlossen. Und 2005 wurde mit Evo Morales, dem Aymara-Indianer, politischer und Gewerkschaftsführer, zum ersten Mal ein Indigener zum Präsidenten eines lateinamerikanischen Landes gewählt (5). Das Jahr 1994 markiert also den Ausbruch des Kampfes eines indigenen Volkes, der das Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko in Frage stellt und auch die Gegen-Agrarreform, die der neoliberale Präsident Carlos Salinas de Gortari durchgesetzt hatte (6). Die zapatistische Armee der nationalen Befreiung (EZLN) erklärt der mexikanischen Regierung den Krieg auf eine « pazifistische » Weise, ohne Blutvergieβen. Grundsätzlich erklärt die EZLN: « Wir erheben uns und greifen zu den Waffen, aber wir wünschen uns, sie nicht anwenden zu müssen ». Das ist nicht die letzte Guerilla des 20. Jahrhunderts, sondern vielmehr die erste Erfahrung einer Guerilla neuen Typs des 21. Jahrhunderts.

2. 1994 wurde auβerdem 50 Jahre der Gründung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds « gefeiert ». Dieses Ereignis war Anlass für eine enorme Protestversammlung in Madrid. Diese Demonstration unter dem Motto «Die anderen Stimmen des Planeten » hat später die sozialen Bewegungen in Frankreich beeinflusst, die während der Mobilisierung gegen den G7-Gipfel in Lyon 1996 Bündnisse unter diesem Namen gründeten (7). Die spanische Initiative vereinigte NGOs, Bewegungen wie « Plattform 0,7 », in der junge Leute dafür kämpften, dass ihre Länder 0,7 Prozent ihres BIP für öffentliche Entwicklungshilfe einsetzen, der CADTM (8) und auch Gewerkschaften, die Frauen- und die Umweltbewegung. Schon bei diesem Gegengipfel schlossen sich eine ganze Reihe von Bewegungen zusammen, die sich später 1999 in Seattle wieder vereinigen sollten, dann 2001 in Porto Alegre usw.

3. Dritter starker Moment 1994 : die «Tequilakrise», wiederum in Mexiko. Man muss sich wieder ins Gedächtnis rufen, dass man 1993/1994 vom asiatischen Wunder, vom mexikanischen Wunder, vom tschechischen Wunder für die Länder Osteuropas gesprochen hat. Man sprach von « emerging countries » - Schwellenländern- und ihren großen Erfolgen. Die « Tequilakrise » hat ganz Lateinamerika erschüttert. Sie war der Anfang einer schweren Finanzkrise, die nacheinander Südostasien 1997-1998, Russland 1998, Brasilien 1999, Argentinien und die Türkei 2000-2001 erfasst hat.

Wenn das Jahr 1989 den Anfang eines starken und anhaltenden Widerstandes in Lateinamerika gegen die neoliberale Politik markiert, dann bedeutet 1994 eine Wende hin zu neuen Ausdrucksformen des Widerstandes, zu neuen Allianzen und zur Krise des neoliberalen Modells.

Und 1999 wurde weltweit und in Realzeit sichtbar, dass man siegreich gegen die WTO kämpfen kann, gegen eine weltweite Organisation, die für den Willen steht, alle menschlichen Bezüge in Waren zu verwandeln. Diese Marksteine fügen sich in ein gröβeres Ganzes des Widerstandes sowie eines sozialen und politischen Neubeginns ein.

Neue Widerstände überall

Im Laufe der 1990er Jahre, nach einer ersten Periode, die von den Pinochets, Thatchers und Reagans bestimmt war, tauchten neue Widerstandsformen an verschiedenen Orten des Planeten auf. Dank der neuen Akteure, die sich hier äuβern, wurde die Lücke gefüllt, die die Krise der traditionellen Arbeiterbewegung gelassen hat.

Entstanden im 19. Jahrhundert und nach und nach gefestigt, hatte diese Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert in den meisten Ländern des Planeten die Szene der emanzipatorischen Kämpfe dominiert.

Die Kämpfe der Resistance in Europa während des 2. Weltkrieges und die Befreiung, die Errungenschaften, die dem Sieg über den Nazismus und den Faschismus folgten, waren Verdienste dieser Arbeiterbewegung, die sich auf starke Kräfte in der industriellen Arbeiterklasse stützen konnte.

Geschwächt durch die neoliberale Offensive der 1970-1980er Jahre, geriet diese Arbeiterbewegung in die Krise. Fast alle Führungen der groβen Gewerkschaftsorganisationen sind dermaβen bürokratisch und an das kapitalistische System angepasst, das sie nun die Kämpfe und die Radikalisierung bremsen.

Neue Gewerkschaften sind aus Abspaltungen von den groβen traditionellen Organisationen hervorgegangen und spielen die Rolle des Stachels, aber sie tun sich schwer zu wachsen, denn die Bürokraten legen ihnen mächtige Hindernisse in den Weg. Im Innern der Gewerkschaften spielen die Gruppen, die links von der bürokratischen Zentrale stehen, eine heilsame Rolle.

Obwohl die Gewerkschaften geschwächt und gelähmt sind, starten die Beschäftigten des öffentlichen und des privaten Sektors regelmäβig Kämpfe von großer Tragweite. Das ist der Fall in Westeuropa, wo man groβe soziale Mobilisierungen kennt, an denen die Gewerkschaftsbewegung aktiv teilnimmt (Italien, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Portugal, Spanien …). So im Herbst 1995 in Frankreich, als die Beschäftigten sich in Bewegung setzten und Premierminister Alain Juppé aus dem Amt gejagt haben. Das hat in der Folge Lionel Jospin veranlasst, Frankreich aus den bis dahin geheimen Verhandlungen über das Multilaterale Investitionsschutzabkommen MAI zurückzuziehen und damit einen wichtigen Pfeiler der neoliberalen Offensive umzustoβen. Das ist auch der Fall in vielen Ländern Lateinamerikas, Asiens, Afrikas und Nordamerikas.

In den 1990er Jahren tauchen auch Akteure auf, die vorher im Schatten standen. Weltweit entstehen Bauernbewegungen : 1984 gründet sich in Brasilien die Landlosenbewegung MST, 1992 wird die internationale Kleinbauern-Organisaton Via Campesina gegründet, das Auftauchen der Symbolfigur José Bové in Seattle, das Anwachsen der Gewerkschaftsorganisation der Coca-Bauern in Bolivien unter der Führung von Evo Morales, zahlreiche Kämpfe von Bauern in Indien, Südkorea und andernorts. Wer hätte sich in den 1960er Jahren in den industrialisierten Staaten vorgestellt, dass ausgerechnet Bauern der Stachel im neuen Kampf für eine andere Welt sein würden? Diese Bewegung ist ein extrem wichtiger Akteur im Widerstand gegen die neoliberale Offensive und gegen die Kommerzialisierung der Welt geworden, gegen die Patentierung des Lebens. Sie hat besonders Forderungen um Gemeinschaftsgüter in den Vordergrund gerückt: Wasser, Erde, Saatgut … Nicht die Forderungen oder Werte an sich sind das Neue, sondern die Art, sie zu erheben, denn in Anbetracht der Errungenschaften nach dem Sieg über den Faschismus – also der Stärkung der öffentlichen Dienstleistungen – musste die ´Frage der Gemeinschaftsgüter nicht als ein zu erreichendes Ziel angesehen werden. Hatte man nach dem 2. Weltkrieg den Zugang zu Gemeinschaftsgütern ausgeweitet, so ist dies durch die neoliberale Offensive völlig zunichte gemacht worden und man entdeckt heute die Notwendigkeit, sie zu verteidigen oder sie zurück zu erlangen.

Man muss die indigenen Bewegungen mitbetrachten, denn die indigenen Völker gehen zur Offensive über. Beispielsweise stellten in Bolivien von den 1940er bis in die 1960er Jahre die indigenen Minenarbeiter und ihre Gewerkschaften die Avantgarde des bolivianischen Volkes dar. Seit in den 1980er Jahren ein groβer Teil der Minen geschlossen wurden, formen die Indios, insbesondere die Coca-Bauern, die indigene und bäuerliche Bewegung. Man hat gesehen, dass Bergleute, Rentner oder Entlassene, zusammen mit der indigenen Bauernbewegung gekämpft haben: eine neue Allianz hat sich gebildet.

Man sollte auch die Frauenbewegung erwähnen, die beim weltweiten Marsch der Frauen im Jahr 2000 wieder erstarkte.

Verschiedene Jugendbewegungen haben Anfang der 2000er Jahre einen groβen Anklang gefunden (Peru (9), Mexiko (10), USA (11), Italien (12), Spanien (13), Frankreich (14), Griechenland (15), Chile (16) …).

Unter den neuen Kräften sind auch die «neuen Proletarier » oder die neuen Ausgeschlossenen. Die Revolte der Vorstädte in Frankreich im November 2005 (die auch teilweise nach Belgien und Deutschland ausgestrahlt hatte) und, in einem kleiner Maβstab Ende November 2007, ist eine Revolte der neuen Proletarier.

Es sind nicht so sehr die, die in den Fabriken in einem industriellen Zusammenhang ausgebeutet werden, selbst wenn ein Teil von ihnen das sind. Die Jungen aus den Vorstädten, die im Herbst 2005 auf die Straβe gegangen sind, sind Proletarier im wahrsten Sinne des Wortes : sie sind nicht die Besitzer ihrer Produktionsmittel, sie sich auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihre Arme und Gehirne zu vermieten, um sich und ihre Familien versorgen zu können. Sie leben in prekären Verhältnissen und sind oft Opfer von Rassismus.

Eine Herausforderung: die Vereinigung mit den Rebellen

Die jungen Menschen aus den Vorstädten sind eine Art neues Proletariat, die Wege suchen und finden, sich mit ihnen adäquaten Aktionsformen auszudrücken.

Man kann die Form bedauern, die diese Revolte bekommen hat (hunderte oder tausende in Brand gesteckte Privatfahrzeuge), aber es ist eine elementare Herausforderung für die organisierten Bewegungen der BürgerInnen, für die Gewerkschaftsbewegungen, eine Verbindung mit dieser Art der Revolte hinzubekommen. Das ist nicht leicht, aber in dem fragmentierten Rahmen, in dem wir leben, ist es ohne eine solche Verbindung schwer vorstellbar, wie die Akteure, die sich in den Ländern des Nordens der neoliberalen Offensive entgegenstellen, wirklich gewinnen sollen.

In Westeuropa und Nordamerika müssen die, die das Glück haben, eine Beschäftigung oder eine garantierte Rente zu haben und noch die Energie zu kämpfen, weil sie noch bei guter Gesundheit sind (die Menschen, die vor 40 oder 50 Jahren das Rentenalter erreicht haben, hatten nicht die gleichen Möglichkeiten) eine neue soziale Allianz anstoβen. Wenn es den Beschäftigten zwischen 20 und 60 Jahren und den Rentnern in den organisierten Sektoren nicht gelingt, sich mit denen ohne Stimme, mit den neuen Proletariern zu vereinigen, um eine mächtige Protestbewegung zu bilden, die die Gesellschaft fundamental in Frage stellt, wird es schwierig sein, in den industrialisierten Ländern einen radikalen Wandel herbeizuführen. Tatsächlich hat jeder Wandel schon immer stark von der jungen Generation abgehangen, ob sie zur Schule gehen, zur Universität, ob sie arbeitslos sind oder schon arbeiten. Die Jugend hat sich in Frankreich bei den siegreichen Protesten gegen den CPE (Vertrag zur Erstanstellung) gezeigt, aber sie äuβert sich auch in den Vorstädten.

Zahlreiche revolutionäre Erschütterungen haben die Welt seit dem 18. Jahrhundert erbeben lassen

Groβe revolutionäre Umwälzungen haben an verschiedenen Orten des Planeten im 18. und 19.Jahrhundert stattgefunden.

Die Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich, den USA und Haiti haben beachtliche und anhaltende Auswirkungen gehabt, insbesondere in Lateinamerika, wo sich Anfang des 19. Jahrhunderts die Unabhängigkeitskriege entwickelten.

1848 brechen in mehreren europäischen Staaten Revolutionen aus. Drei Jahre später ist China an der Reihe. 1851 beginnt dort die Rebellion der Taiping gegen die Quing-Dynastie. «Gleich in den ersten Tagen haben sie damit begonnen, das Land aufzuteilen, die Frauen mit Rechten auszustatten und Formen der Gemeinschaft zu propagieren, in denen gewisse Kommentatoren letztlich eine Form des autochtonen Sozialismus sehen wollten », unterstreicht der Historiker Christopher Bayly (17).

Wenige Jahre später, 1857, beginnt in Indien die Rebellion gegen die britische Besatzung. Angezettelt von der Meuterei der Cipayes, den einheimischen Soldaten in der Armee von Bengalen der Ostindischen Kompanie, dauert diese Rebellion zwei Jahre und nimmt radikale Formen an. Während die europäischen Regierungen sich verständigen, um die revolutionäre Welle in Europa zu unterbinden, während London die Rebellion in Indien zerschlägt und London und Washington der chinesischen Regierung Hilfe zur Beendigung der Revolte der Taiping anbieten, gibt es auf der Seite der Völker noch keine internationale Organisation, die in der Lage gewesen wäre, die Kämpfe miteinander in Verbindung zu bringen, um sie damit zu stärken.

Kurz vor dem Frühjahr 1848, in dem sich eine wahre Revolutionsdynamik in Europa entwickelte, hat Karl Marx gesagt : «Es geht ein Gespenst um in Europa», er sprach vom Kommunismus. Mit Friedrich Engels und verschiedenen politischen Kräften hat er die Gründung der Internationale Vereinigung der Arbeiterschaft angestoβen.

Vier Internationale wurden zwischen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegründet (18).

Im 20. Jahrhundert haben Revolutionen 1905 und 1917 Russland erschüttert, Mexiko von 1910 bis 1917, Deutschland (1918-1923), Italien (1918-1919), Spanien (1936-1939), China (1949), Cuba (1959), Algerien (1954-1962), Nicaragua (1979) usw.

Die neoliberale Offensive und die Restauration des Kapitalismus im ehemaligen Sowjetblock und in China haben die Aussicht auf Revolutionen stark verringert. Aber die Herde des Widerstandes gegen Neoliberalismus und Kapitalismus sind nicht verschwunden. Seit den 1990er Jahren entsteht eine Widerstandsbewegung, der es gelingt, sich zu internationalisieren.

Der Prozess des Weltsozialforums

Das neue, derzeit auftauchende Bündnis kommt zum Teil im WSF-Prozess zum Ausdruck, und jener unterscheidet sich in mehreren Punkten von den linken internationalen Organisationen in früheren geschichtlichen Epochen.

Er ist bei weitem nicht so radikal wie die 4 „Internationalen“, die im XIX. und XX. Jahrhundert aufeinander folgten. Da spielt das Trauma, das die bürokratische Entartung der sozialistischen Versuche im 20. Jahrhundert hinterließ, vom Gulag bis zur Wiedereinführung des Kapitalismus im Block des „real existierenden Sozialismus“ eine erhebliche Rolle. Auch muss die Gewalt, mit welcher die kapitalistische Offensive ans Werk ging, berücksichtigt werden.

Das WSF ist ein Meilenstein im Aufbau einer breiten, stark in Entwicklung begriffenen internationalen Widerstandsbewegung, eine derzeit kunterbunte Bewegung ohne Epizentrum. Nicht unbedingt alle Komponenten dieses vielförmigen Widerstandes finden sich im WSF-Prozess wieder.

Das WSF ist kein Wundermittel

Nun darf man sich nicht ausschließlich mit den positiven und erneuernden Aspekten des WSF befassen, denn seine Grenzen hat er auch, und die werden immer deutlicher.

Erstens umfaßt das WSF, wie schon gesagt, nicht alle globalen Widerstandsbewegungen. Um zwei Beispiele zu nennen: die mexikanischen Zapatisten machen nicht mit, die Widerstandskämpfe in China sind nicht darin eingebunden.

Zweitens stehen die Vorstellungen einer alternativen Strategie in ihren Anfängen und die alte Debatte zwischen Reformismus und Revolution ist noch nicht ausgetragen. Soll man mit dem System ganz und gar brechen oder es nur verbessern, indem man Regulierungsmechanismen in einen “zivilisierteren’“ Kapitalismus wieder einführt? Eine Debatte, die nach wie vor da ist und gewiss lebhafter wird. Sie kann eine Spaltung in die Bewegung bringen, die z. Z. als ein von einer Charta der Prinzipien (19) ausgehendes Bündnis zwischen verschiedenen Bewegungen von unterschiedlicher Radikalität darstellt.

Insgesamt bringen diese Bewegungen eine ganze Reihe gemeinsamer grundlegender Forderungen, von Tobinsteuer bis zur Annullierung der Schulden der Dritten Welt über Kampf gegen Steueroasen, Ablehnung der Patriarchats, Wille zum Frieden und zur Abrüstung, Recht auf sexuelle Vielfalt...

Alle sind sich schon einig, einen gemeinsamen Kampf für die Durchsetzung jener Ziele zu führen. Wie ist aber dieser Kampf zu führen – abgesehen von der Debatte um grundlegendere, radikalere Zielssetzungen?

Jene „andere mögliche Welt“, die wir uns so innig wüschen und so schnell durchsetzen möchten, damit die jungen Generationen sie tatsächlich erleben könnten, und nicht nur davon träumen oder sie heraufbeschwören dürften - WAS ist sie? Darüber müssen strategische Debatten geführt werden.

Debattiert werden muss nicht nur die Alternative sondern auch die Mittel, sie zu verwirklichen. Einer solchen Debatte können wir schlicht und einfach nicht aus dem Wege gehen.

Zurzeit wird die Zukunft des WSF durch eine negative Entwicklung gefährdet.

Gerade sein Erfolg - jedes Mal nahmen an den Weltversammlungen mehrere Zehntausende teil, individuelle TeilnehmerInnen oder Delegierte (in einigen Fällen, wie z.B. 2004 in Mumbai oder 2005 in Porto Alegre über 100 000) - machte ein Teil ihrer Protagonisten zu Events-Organisatoren oder Geldsammlern. Ihre Vision der Alternative beschränkt sich weitgehend auf eine menschlichere Globalisierung. Sogar den Sozialbewegungen und internationalen Kampagnen, von Debatten zwischen Radikalen und Gemäßigten belastet, gelingt es nicht, die Zukunft des Forums ausreichend zu beeinflussen. Man läuft Gefahr, einmal sagen zu müssen „Der Berg kreißte - und gebar eine Maus.“ Und dass das WSF als ausschließlicher Organisator aufeinander folgender Treffen im Sumpf stecken bleibt.

Woher wird wohl der Umschwung kommen?

Zu den fortschrittlichen Kräften zählen Widerstandsbewegungen, die in allen Teilen des Planeten auftreten, selbst in einem Land, das ganz am Rande des WSF-Prozesses steht: China. In diesem Land finden zurzeit äußerst wichtige soziale Kämpfe statt. Sie erinnern gewissermaßen an das Ende des XIX. und den Anfang des XX. Jahrhunderts. Angesichts eines entfesselten Kapitalismus tauchen bei den Arbeitern oder in den Städten Widerstandsformen auf, die auf das vor einem Jahrhundert in europäischen und amerikanischen Ländern schon da Gewesene hinweisen.

Ein fundamentaler Unterschied wird vielleicht aber die Entstehung eines revolutionären Projekts in China äußerst erschweren: dort sind Sozialismus und Kommunismus entsetzlich in Verruf geraten, denn gerade unter ihrem Vorzeichen haben die chinesischen Machthaber das Land bis heute regiert. Entsetzlich ist der Verruf, in dem der Sozialismus nun steht. Der Verlust an Orientierungen ist offensichtlich und die Abneigung gegen Politik wird wohl lange halten. Am Ende kann der heiß erwünschte Umschwung von irgendwoher auf der Welt kommen.

Venezuela, Bolivien, Ecuador: drei Akteure des Wandels

Ist aber von revolutionärem Wandel die Rede, so scheint der Süden derzeit einen günstigeren Rahmen bieten als der Norden.

Der heutzutage innovativste und potentiell größte Fortschritt ist die venezolanische, bolivianische und - neuerlicher – ecuadorianische Praxis. Natürlich sollen wir uns vor jeder Idealisierung hüten und kritisch bleiben. Abschweifungen sind möglich und die Gefahr besteht, dass diese Praxis zu keiner wirklichen Umverteilung der Reichtums führt, insbesondere, weil sie von Seiten der Kapitalisten im In-und Ausland auf einen sehr starken Widerstand stoßen, ganz zu schweigen vom Druck, den die Regierungen der größten Industrieländer und ihrer regionalen Verbündeten (Alvaro Uribe in Kolumbien und Alan Garcia in Peru) ausüben.

Diese Praxis lässt sich nicht auf die Rolle von Hugo Chávez, Evo Morales oder Rafael Correa reduzieren, obwohl es sich hierbei um drei äußerst wichtige Persönlichkeiten handelt. Bisher spielen sie im Prozess eine positive Rolle und sind Ausdruck mächtiger, zurzeit agierender Bewegungen in ihren jeweiligen Ländern.

Doch hätte es keinen Evo Morales gegeben ohne die großen Mobilmachungen gegen die Privatisierung der Wasserversorgung, die im April 2000 in Cochabamba statt fanden und die noch größeren gegen die Privatisierung der Erdgasförderung im Januar/ Februar 2003.

Chávez, wäre nicht 1998 zum Präsidenten gewählt worden ohne den massiven Aufstand gegen den IWF (1989) und den gewaltigen Widerstand der Venezolaner.

Und Rafael Correa wäre auch nicht gewählt worden ohne den zehnjährigen Kampf, der vier sukzessive rechte Präsidenten zu Fall brachte.

Diese drei Länder sind beispielhaft, weil die Bewegung ihren Ausdruck bis auf der Regierungsebene fand.

Auf dem Gebiet der globalen öffentlichen Güter haben die drei Regierungen die Initiative wieder ergriffen: Bolivien kontrolliert wieder Erdgas- und Ölförderung sowie Wasserversorgung; in Venezuela steht die Ölproduktion unter öffentlicher Kontrolle und die eingenommen Gelder werden in den Dienst eines neuen sozialen Projekts gestellt, im Rahmen einer Umverteilung auf regionaler Ebene. Venezuela hat mit Ländern ohne eigene Ölexporte Abkommen geschlossen, aufgrund derer es ihnen Öl unter dem Weltmarktpreis verkauft.

Außerdem arbeiten freiwillig 20000 kubanische Ärzte in Venezuela, wo sie die Bevölkerung umsonst behandeln; Kuba seinerseits hat mit Venezuela sowie mit Bolivien ganz interessante Kooperationsbeziehungen erstellt. Da haben wir es mit einer Art Realtausch zu tun zwischen Ländern mit unterschiedlichen Ressourcen, Geschichte und politischen Strukturen.

In Ecuador wird gerade an einer Verfassungsänderung gearbeitet, die für dieses Land einen signifikanten Schritt zur Demokratie bedeuten kann. Außerdem hat der ecuadorianische Präsident mehrmals den Willen geäußert, die Abzahlung von illegitimen Schulden in Frage zu stellen und eine Kommission zur gründlichen Prüfung der Innen- und Außenschuld aufgestellt.

Was derzeit in diesen drei andinen Ländern läuft ist wirklich nicht ohne Bedeutung. Die Bezugnahme auf den Kampf von Simon Bolivar (20) zeugt vom Willen, mit dem heutigen Prozess an die vorherigen revolutionären Vorgänge anzuknüpfen und jene hiermit in der lateinamerikanischen Geschichte fest zu verwurzeln. Auch tritt der Wille deutlich zum Vorschein, sich auf die Emanzipationskämpfe der einheimischen Völker zu berufen - insbesondere die von Tupac Amaru (22) und Tupac Katari (23) angeführten Rebellionen -. Zu guter Letzt wird der afrikanische Beitrag zum kulturellen Reichtum des jeweiligen Landes immer stärker betont (24).

Den geschichtlichen Ablauf zu Gunsten der Emanzipation der Unterdrückten beeinflussen

Wo werden wohl Kräfte auftauchen, imstande, den in den letzten drei Jahrzehnten angenommenen Kurs umzusteuern?

Eine beispielhafte Praxis wie in Venezuela, Bolivien und Ecuador wird sich mit den Mobilisierungen in Nordamerika, Europa, Asien und Afrika kombinieren.

Eine solche Konjunktion der fortschrittlichen Kräfte der Alten Welt mit denen der Neuen Welt könnte wirklich zu einer geschichtlichen Wende führen. Nun ist aber nichts gesichert. Umso notwendiger, dass jeder von uns am emanzipatorischen Kampf einnimmt.

Lasst uns auf den Sozialismus des XXI. Jahrhunderts hinsteuern!

Es ist nicht nötig, an den Zusammenbruch des Kapitalismus oder den Sieg eines revolutionären Projekts zu glauben, um sich im Alltag zu engagieren und sich Ungerechtigkeiten zu widersetzen. Die Geschichte kennt nicht das Unabwendbare.

Der Kapitalismus bricht sicher nicht von sich aus zusammen. Auch wenn uns morgen keine neue große revolutionäre Periode zuwinkt, ist es doch nicht reine Anmaßung, an manchen Orten eine Praxis nach sozialistischem Muster wieder zu erhoffen, die Freiheit und Gleichheit vereinen würde. Über diese Vorstellung gibt es in der Bewegung, im WSF, keinen Konsens... aber viele sind doch der Meinung, man müsse sich im 21. Jahrhundert einen neuen Sozialismus ausdenken.

Lasst uns über die traumatisierenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, das hässliche Gespenst des Stalinismus und der Ereignisse in China und Kambodscha unter Pol Pot hinausgehen und wieder an das emanzipatorische sozialistische Projekt des 19. Jahrhunderts bzw. die revolutionären Werte des 18. Jahrhunderts anknüpfen - ja auch an frühere Zeiten, denn die Emanzipationskämpfe der Unterdrückten sind Meilensteine in der menschlichen Geschichte, von Spartakus bis heute über die Kämpfe von Tupac Amaru und von den rebellischen Nachfahren afrikanischer Sklaven in Brasilien unter der Führung von Zumbi. Die neuen Beiträge von vielfältigen Akteuren und die neuen Forderungen müssen auch berücksichtigt werden - und das alles muss in die Realität des 21. Jahrhunderts miteinbezogen werden.

Im 21. Jahrhundert bedeutet Sozialismus die freie Vereinigung der Produzenten, die Gleichberechtigkeit von Mann und Frau. Es handelt sich um ein internationales Projekt, eine Föderation von Ländern und Regionen im Rahmen von großen kontinentalen Einheiten und mit Rücksicht auf die grundlegenden Texte, auf internationale Verträge, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, der internationale Vertrag über soziale, wirtschaftliche und kulturelle Menschenrechte von 1966, eine ganze Reihe Werkzeuge zur Erstellung der im Rahmen früherer Revolutionen erworbenen und festgeschriebenen, internationalen und universellen Rechte. Die Umsetzung jener Grundrechte kann nur im Rahmen einer kreativen Praxis des neuen Modells des Sozialismus des 21. Jahrhunderts erfolgen. Uns stehen noch über neun Jahrzehnte zur Verfügung....

Anmerkungen

(1) Die Leitung des staatlichen Erdöl-Konzerns von Venezuela SA-PDVSA, der in den 1970er Jahren mit der Verstaatlichung der venezolanischen Erdölvorkommen errichtet worden war, hatte zunehmend die Interessen von Privaten und von Washington bedient: Ein groβer Teil der Gewinne wurde durch US-Filialen der PDVSA in den USA deklariert. Dies änderte sich, als die Regierung unter Hugo Chavez von 2001-2002 an die Dinge wieder unter nationale Kontrolle nahm.

(2) Das hindert Washington und einige europäische Regierungen nicht daran zu versuchen, die Regierungen in Bolivien, Venezuela und Ecuador zu destabilisieren. Sie unterstützen insbesondere die kapitalistischen Sektoren, die in diesen Ländern die Abspaltung der reichen Regionen herbeizuführen versuchen: die weiβe Bourgeoisie von Santa Cruz in Bolivien, von Guayaquil in Ecuador, von Zulia in Venezuela. Diese Strategie der Spannung müssen wir sehr genau beobachten, denn sie kann an Umfang gewinnen. Die Mehrzahl der Medien versucht, die Sezessionsbemühungen der reichsten Gebiete als Ausdruck des demokratischen Völkerrechts darzustellen. Tatsächlich werden diese Aktionen von Minderheiten geführt, die sich den sozialen Reformen in den Weg stellen, weil sie um ihre Privilegen und die Kontrolle über die Macht und das Geld fürchten.

(3) Für eine kritische Betrachtung der Milleniumsziele siehe Damien Millet et Eric Toussaint, 60 Fragen, 60 Antworten über Schulden, den IWF und die Weltbank, CADTM-Syllepse, das auf Französisch im Oktober 2008 erscheinen wird.

(4) Die Mobilisierung gegen den G7-Gipfel in Paris und für die Schuldenstreichung fand im Rahmen der Kampagne « Es reicht » statt und wurde zum Ausgangspunkt für CADTM.

(5) Um ehrlich zu sein, Evo Morales hat einen Vorgänger: den mexikanischen Präsidenten Benito Juarez, der in den 1860er Jahren die öffentliche Auslandsverschuldung ablehnte. Dies brachte ihm die Intervention der europäischen Armeen ein, die den Kaiser Maximilian von Österreich an die Macht brachten.

(6) Gestützt auf die Weltbank und den IWF, hatte dieser vom mexikanischen Kongress die Zustimmung zu einer Verfassungsänderung erreicht, um die Gemeinschaftsgüter privatisieren zu können (auf spanisch « el ejido » genannt).

(7) Das hat das Komitee zur Annulierung der Schulden der Dritten Welt CADTM veranlasst, seine Zeitung «Die anderen Stimmen des Planeten » zu nennen.

(8) Siehe das Dossier von CADTM zum Gegengipfel in CADTM-GRESEA, Weltbank, IWF, WTO : Es reicht !, vierteljährliche Publikation des CADTM, 3. Quartal 1995, S. 42-74

(9) Die studentischen Proteste haben in Peru zum Sturz des Diktators Alberto Fujimori im November 2000 geführt.

(10) Zehnmonatiger Streik an der Universität UNAM in Mexiko von April 1999 an.

(11) Proteste der Studenten in den Universitäten zu Themen der Gesellschaft und starke Beteiligung an globalisierungskritischen und Antikriegs-Mobilisierungen.

(12) Massive Beteiligung junger Menschen an den Mobilisierungen gegen die Globalisierung und gegen den Krieg in den Jahren 2000-2004.

(13) Massive Beteiligung junger Menschen an den Mobilisierungen gegen die Globalisierung und gegen den Krieg in den Jahren 2000-2004.

(14) Kampf der Studenten gegen den Vertrag zur Erstbeschäftigung und verschiedenen Universitätsreformen. Unruhen in den Vorstädten.

(15) Kampf der Studenten 2006-2007 gegen die Privatisierung der Universitäten.

(16) Proteste von Schülern, genannt « die Pinguine », gegen das Reformvorhaben der sozialisitischen Regierung von Bachelet 2006.

(17) Bayly, C. A. (2004), Die Geburt der modernen Welt (1780-1914), Les Editions de l’Atelier/Editions Ouvrières, Paris 2007, 862 S., S. 245. Die Rebellion der Taiping und deren Repression kosteten 20 Millionen Menschenleben, so Bayly. 1850 zählte China 450 Millionen Einwohner.

(18) Die Internationale Vereinigung der Arbeiterschaft, bekannt als 1. Internationale wurde 1864 vor allem von Karl Marx und Friedrich Engels gegründet. Hier finden sich «anti-autoritäre» Strömungen (die internationale Strömung von Michael Bakunin), Marxisten und auch Anhänger von Pierre-Joseph Proudhon…, arbeiten politische, gewerkschaftliche und genossenschaftliche Aktivisten zusammen. Die 1. Internationale bricht nach dem Scheitern der Pariser Kommune 1871 auseinander. In den Statuten von 1864 (redigiert von Karl Marx) bekräftigt die Internationale, dass « die Emanzipation der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein muss ».

Die 2. Internationale wurde 1889 vor allem auf Initiative von F. Engels gegründet. War sie anfangs von marxistischen Ideen beeinflusst, entwickelte sie sich zunehmend in Richtung gemäβigter Positionen. Ein Punkt ohne Wiederkehr war erreicht, als die Parteien der 2. Internationalen im August 1914 beim Ausbruch des 1. Weltkrieges entgegen gesetzte Positionen einnahmen.

Die 2. Internationale existiert noch heute unter dem Namen Sozialistische Internationale, sie versammelt die wichtigsten sozialistischen Parteien von der deutschen SPD über die spanische PSOE bis zur Partei des tunesischen Präsidenten Ben Ali (siehe die offizielle Homepage der Sozialistischen Internationale www.socialistinternational.org/maps/french/fafrica.html), die israelische Arbeiterpartei, die Radicale Bürgerunion in Argentinien oder die FSLN in Nicaragua, die französische PS.

Die 1919 von Lenin gegründete 3. Internationale wurde mehr und mehr ein aussenpolitisches Instrument des stalinistischen Regimes und wurde 1943 von Joseph Stalin aufgelöst.

Die 4. Internationale wurde 1938 in Frankreich durch Leon Trotzki gegründet, wegen der bürokratischen Degeneration des diktatorischen Sowjetregimes und der Unfähigkeit der 3. Internationalen, effektiv gegen den Faschismus und die Franco-Diktatur zu kämpfen. Im Widerstand gegen die kapitalistische Globalisierung sind mehrere Organisationen und internationale Strömungen aktiv, die sich der 4. Internationalen zurechnen.

(19) www.forumsocialmundial.org.br/main.php ?cd_language=3&id_menu=4

(20) Abdalá Bucaram im Februar 1997, Jamil Mahuad im Januar 2000, Gustavo Noboa im Januar 2003, Lucio Gutiérrez im April 2005

(21) Simón Bolívar (1783-1830) war einer der ersten, die versucht haben, die Länder Lateinamerikas zu vereinigen um daraus eine einzige unabhängige Nation zu bilden. Nach langen Kämpfen hat er es erreicht, dass Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien von der spanischen Herrschaft befreit wurden. Er wird als ein Held verehrt und seinen Namen kann man an vielen Stellen in Lateinamerika sehen.

(22) Túpac Amaru, Inca Quechua, und seine Anhänger kämpfen ohne unterlass gegen die Konquisidatoren im 16. Jahrhundert. Er wurde von der spanischen Armee gefangen genommen, zu Tode verurteilt und gevierteilt auf dem großen Platz in Cuzco am 24. September 1572.

(23) Túpac Katari, Aymara-Indianer (1750-1781) hat eine Armee von 40.000 Kämpfern aufgestellt, die 1781 nach La Paz gezogen sind. Die Kolonialherrscher haben zwei Jahre gebraucht, um den Aufstand zu unterdrücken, der von der indianischen Bevölkerung stark unterstützt wurde. Die spanischen Besatzer haben ihn durch Vierteilung hingerichtet. Vor seinem Tod soll er gesagt haben:"a mi solo me mataréis, pero mañana volveré y seré millones”(Ihr werdet mich töten aber ich werde zurückkehren – in Millionen verkörpert). Seine Gestalt hat die bolivianischen sozialen Kämpfe der letzten Jahre inspiriert.

(24) S. den Verfassungsentwurf von Dezember 2007

www.forumsocialmundial.org.br/noticias_textos.php

Übersetzung : Lena Bröckl, Michèle Mialane, coorditrad

Einige Web-Seiten

www.forumdespeuples.org/article139.html

 

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