zur Startseite
Das deutschsprachige Informationsportal
zur weltweiten Sozialforum-Bewegung
zur Startseite zur Startseite
| Aktuell  | Termine  | Links  | Forum  | Feedback  | Newsletter  | Suche: 
 
Schnell-Info
zurück zur Startseite

Berichte

Chico Whitaker: Das Weltsozialforum: Offener Raum für eine andere Welt

Der Theoretiker und Organisator der Weltbürgerbewegung analysiert das von ihm mitbegründete Weltsozialforum als Institution, die eine"andere Welt"erfahrbar macht.

Vorwort von Chico Whitaker zur deutschen Ausgabe:

Die Erstausgabe dieses Buchs erschien in portugiesischer Sprache im Januar 2005 während des Weltsozialforums in Porto Alegre, Brasilien. Daher beschreibt es den Forumprozess nur bis zu diesem Zeitpunkt sowie die Pläne für das WSF 2005.

Danach und im folgenden Jahr wurden jedoch mehrere regionale, nationale und lokale Foren durchgeführt, sowie im Januar 2006 ein polyzentrisches Weltsozialforum mit fast zeitgleich stattfindenden Treffen in drei Ländern auf drei Kontinenten: in Caracas, Venezuela/Südamerika; in Bamako, Mali/Afrika und in Karatschi, Pakistan/Asien. Und im Januar 2007 fand in Nairobi, der kenianischen Hauptstadt, das Weltsozialforum 2007 statt. Es ist daher angebracht, den Inhalt des Buches zu ergänzen – mit einer Rückschau auf die seit Januar 2005 fortgeschrittene Entwicklung. Bisher unterschied sich jedes Weltsozialforum von dem vorangegangenen auch durch sichtbare Fortschritte in der angewandten Methodik, die sich auf die Auswertung der Erfahrungen des Vorjahres im Sinne einer effektiven und vollständigen Erfüllung der gesteckten Ziele gründeten. Das war der Fall bei den Vorabumfragen für die Foren in den Jahren 2005 und 2007, auf die ich am Ende dieses Vorworts eingehe. Es kann aber schon jetzt gesagt werden, dass die Herausforderung der konzeptionellen Option für ein Forum als Raum und nicht als Bewegung nach und nach gemeistert wird. Unter den vielen Menschen, die sich auf verschiedensten Ebenen mit der Organisation von Foren befassen, wird immer deutlicher auf das Konzept des Forums als Raum gesetzt. Andererseits verstehen sich diese Organisatoren auch immer mehr als »Ermöglicher« oder »Wegbereiter« für die Schaffung solcher Räume, in vollem Bewusstsein der Rolle, die ihnen die Wortbedeutung zuweist.

Das heißt jedoch nicht, dass das Konzept des Forums als Raum vollständig gefestigt und akzeptiert ist als ein Instrument, das unabhängig von den zivilgesellschaftlichen Organisationen, denen es dienen möchte, besteht. Der Druck, das Forum in eine Bewegung oder in eine »Bewegung der Bewegungen« umzuwandeln, ist weiterhin vorhanden – wie auch in dem oben angegebenen Artikel vom Mai 2005 ausgeführt. Nach dem Polyzentrischen Forum von 2006 habe ich einen weiteren Beitrag verfasst, in dem ich vier Herausforderungen benannte, die überwunden werden müssen, damit der Forum-Prozess weiterhin Räume und Gelegenheiten für Treffen, Diskussionen, Auswertung und die Schaffung neuer Bündnisse und Netzwerke der zivilgesellschaftlichen Organisationen mit weltweiter Verbreitung und Verankerung bieten kann.(Anm. 1)

In diesem Artikel stellte ich fest, dass zwei dieser Herausforderungen von außerhalb und zwei von innerhalb des Prozesses kommen. Erstere ergeben sich aus dem Handeln von Regierungen und Parteien, denen es schwer fällt, das ureigenste Anliegen des WSF zu verstehen und demzufolge zu akzeptieren. Das wird in der Art und Weise deutlich, wie oftmals Parteien und Regierungen – und auch zwischenstaatliche Organisationen – versuchen, den Foren beizutreten. Obwohl sie als Gäste an von teilnehmenden Gruppen organisierten Aktivitäten teilnehmen können, ist es ihnen nicht möglich – gemäß der Charta der Prinzipien –, eigenständige Veranstaltungen durchzuführen. Da sie bisher die Vormachtstellung für politisches Handeln besaßen, möchten die Parteien vom Forum-Prozess nicht ausgeschlossen werden, weil sie ihre Hegemonie durch die Zivilgesellschaft als neu entstehender politischer Akteur bedroht sehen. Und das, was die Organisatoren der Foren von den Regierungen verlangen, ist ja durchaus nicht leicht: Sie sollen unterstützen, ohne sich einzumischen. Nicht alle sind dazu bereit. Auch ist es sehr schwer, der Versuchung zu widerstehen, sich auf den Veranstaltungen selbst zu profi lieren. Wie im Buch beschrieben, hatte die Anwesenheit von Lula, der kurz zuvor zum Präsidenten von Brasilien gewählt wurde, auf einer großen offiziellen Veranstaltung während des Forums 2003 zu zahlreichen Anfragen über die Einhaltung der Charta der Prinzipien geführt. Erschwerend kam hinzu, dass das WSF 2005 praktisch mit Lula eröffnet und mit dem venezolanischen Präsident Chavez beendet wurde. Diese Veranstaltungen waren nachweislich von Teilnehmenden organisiert, die ihr Recht auf freie Organisation der eigenen Aktivitäten auf den Foren nutzten. Doch dies zu erklären, ist nicht immer einfach. Deswegen wiesen viele auf die Gefahr der Einmischung durch die venezolanische Regierung bei dem in diesem Land – im Rahmen des Polyzentrischen Weltsozialforums – stattfindenden Regionalforum 2006 hin. Tatsächlich aber war dort erneut das zu beobachten, was die Vielfalt der Foren ausmacht: Die Teilnehmenden waren hauptsächlich an dem freien Austausch von Erfahrungen und an der Entwicklung neuer Verbindungen und der Vernetzung unter den Bewegungen und Institutionen interessiert. Die Schwierigkeit, diese Autonomie zu respektieren, folgt zwangsläufig aus der im letzten Jahrhundert vorherrschenden politischen Kultur. Und wenn das Forum nur ein Raum ist, so ist es notwendig, ihn als solchen zu bewahren, weil die Zivilgesellschaft vor seiner Einrichtung über kein Instrument dieser Art verfügte, um sich eigenständig zu verbinden und zu vernetzen.

Es sind jedoch die Herausforderungen, die aus dem Forum-Prozess selbst erwachsen, die eher eine unterminierende Kraft haben, gerade weil sie von innen kommen. Ihr Ziel ist es, die Foren auf ein oder mehrere Themen hin zu »fokussieren«. Immer wieder entsteht deshalb die Schwierigkeit, neue Formen politischen Handelns zu akzeptieren – wie seit jeher bei kulturellen Veränderungsprozessen. Aber auch in den Organisationskollektiven geht man zunehmend dazu über, Entscheidungen nur im Konsens zu treffen – und sei der Prozess, um ihn zu erreichen, noch so mühsam. Doch nach wie vor hat das Konzept, das politisches Handeln im letzten Jahrhundert prägte, viel Gewicht – ein Konzept, das besagt, dass die Effizienz des Kampfes von Führungsinstanzen oder Avantgarden abhängt, die fähig sind, Aktivisten zu mobilisieren und sie bei Aktionen zu führen, wobei stärker auf Disziplin und Gehorsam als auf die innere Überzeugung gesetzt wird, denn letztere erfordert immer einen langwierigeren Prozess. Gewänne dieses Konzept im Forum-Prozess die Oberhand – in Verbindung mit dem Autoritarismus, den der Kapitalismus zunehmend an den Tag legt und der auch viele linke Positionen kennzeichnet –, so würde dies zum Kampf um die Vormachtstellung in der Organisation der Foren führen und somit zu einem permanenten Konkurrenzkampf, bei dem die Logik des Gegeneinanders die für das Erreichen von Konsensen unverzichtbare Logik des Zuhörens letztendlich übertrumpft.

Die erste dieser von innen kommenden Herausforderungen betrifft die Aktion der »Intellektuellen«. Sie werden zu Vorträgen und Podien eingeladen und sind in der Regel davon überzeugt, zu wissen, welche Themen für alle, die sich auf den Foren versammeln, die wichtigsten zu sein haben. Genau das war der Fall 2006 in Mali beim »Appell von Bamako«, der praktisch als Fortsetzung – wenn auch unter anderem Schwerpunkt – des »Manifestes von Porto Alegre« der 19 Intellektuellen im Jahr 2005 gelten kann (siehe Anhang 11). Doch keins der beiden Dokumente wurde von den Teilnehmenden des Forums übernommen, die sich stärker mit der Horizontalität des Prozesses und der Ablehnung eines »Schlussdokuments«, wie in der Charta der Prinzipien festgelegt, identifizierten. Die zweite von innen kommende Herausforderung bezieht sich auf die so genannte, mehrfach im Buch erörterte Versammlung der Sozialen Bewegungen. Mit der Verbreitung von Mobilisierungsappellen am Ende der Foren und der Organisation etlicher Demonstrationen, die ihre Präsenz und Kraft unterstreichen, versucht diese Versammlung, »ihren« Appell zu »dem« Schlussdokument der jeweiligen Foren zu machen. Doch im Unterschied zu der Herausforderung der Intellektuellen, kommt dieser Vorschlag von unten, entspricht also der Alternative, die von den Foren unterstützt wird. Die Idealvorstellung wäre, dass viele Zusammenschlüsse dieser Art auf den Foren entstehen und mit ihnen wachsen. Das Problem der Versammlung besteht allerdings darin, die Foren vereinheitlichen zu wollen und die Rolle des wichtigsten der auf ihnen entstandenen Netzwerke für sich zu beanspruchen. In diesem Sinne terminieren ihre Organisatoren fast immer ihre Abschlusssitzung auf einen Tag nach dem offiziellen Ende der Foren, auf der sie dann versuchen, alles – ihren Kriterien zufolge – Wichtige, was auf den Veranstaltungen diskutiert, vorgeschlagen und beschlossen wurde, zu sammeln und zu systematisieren. Deshalb gibt es Stimmen, die behaupten, dass sie die Foren nur für ihre eigenen Ziele vereinnahmen wollen. Im Spannungsfeld der beiden gegensätzlichen Konzepte – Forum als Raum oder Forum als Bewegung – stellt diese Herausforderung die größte unter den vier hier erwähnten dar, weil sie die Aufwertung der Gesellschaftsorganisation von unten – eine grundlegende Option des Forums – an den dringlichen Wunsch nach Mobilisierung und Aktion koppelt. Wir können davon ausgehen, dass die ersten drei Fragestellungen den Forum-Prozess noch eine Weile begleiten werden. Bezogen auf die letzte entwickelt sich unter den verschiedenen Positionen seit einiger Zeit ein konstruktiver Dialog – zum Beispiel jüngst bei den Versammlungen des Internationalen Rats und seiner Ausschüsse zur Vorbereitung des Forums von Nairobi. Tatsächlich postuliert die Charta der Prinzipien die Notwendigkeit von konkreten Aktionen zur Überwindung des Neoliberalismus – und das entspricht durchaus einem der Anliegen der Versammlung der Sozialen Bewegungen. Aber erst auf der Sitzung des Internationalen Rats nach dem vierten Weltsozialforum in Mumbai wurde dieser Notwendigkeit bei der Auswahl der Methoden für die Durchführung von Foren mehr Raum gegeben. Unter dieser Zielsetzung wurde die erstmals vor dem WSF 2005 durchgeführte Umfrage über die zu behandelnden Themen im Hinblick auf die Zuordnung und Aufteilung der durchzuführenden Aktivitäten durch eine Vorabumfrage über die Ziele der Aktionen der Teilnehmenden ersetzt. Das Gesamtgelände des Forums von Nairobi wird nun in Unterbereiche eingeteilt, die keinen theoretischen Themenkomplexen zugeordnet werden, sondern neun umfassenden Zielsetzungen für konkrete Aktionen.

Auf der anderen Seite wurde das Programm der Veranstaltungen des Forums in zwei Etappen gegliedert: Während der ersten drei Tage führen die Teilnehmenden ihre selbstorganisierten Aktivitäten durch, neben einer Serie von Veranstaltungen, die von den Organisatoren und Teilnehmenden des Forums gemeinsam organisiert werden und deren Schwerpunkt die spezielle afrikanische Problematik im weltweiten Kontext sein wird. Der vierte Tag ist für die Planung von Aktionen durch die Teilnehmenden reserviert: Morgens fi nden alle möglichen Arten von Treffen oder Versammlungen in diesem Sinne statt, nachmittags können die am Morgen erarbeiteten Pläne in größeren interkommunikativen Versammlungen unter spezifischer Themensetzung veröffentlicht und miteinander besprochen werden.

Innovativ ist auch die vom Internationalen Rat im Oktober 2006 entworfene Vorausschau auf 2008. Zeitgleich mit Davos wird das Weltsozialforum weltweit an möglichst vielen Orten stattfinden: Die Teilnehmenden am Prozess werden eingeladen – lokal, national oder regional – vielfältige, deutlich identifizierbare, sehr unterschiedliche Aktivitäten zu Themen, die sie selbst wählen und in Formaten, die ihnen am sinnvollsten erscheinen, zu organisieren – von Demonstrationen, über Vorführungen und Ausstellungen zu Vorträgen und Seminaren oder sogar Foren. Der vierte Tag des Forums von Nairobi wird auch für die Planung solcher Aktivitäten im Januar 2008 Raum bieten. Für das Forum 2009 gibt es noch keinen Programmentwurf. Der Internationale Rat hat bisher nur beschlossen, dass es ein neues Weltsozialforum in einem noch zu bezeichnenden Land geben wird. Der Prozess des Forums entwickelt sich weiter – eine politische Erfindung, die in der Bewegung selbst ihren Weg entwirft.

Chico Whitaker, im Dezember 2006

----------------

Anm. 1: Siehe »Towards Kenya in 2007« unter http://www.forumsocialmundial.org.br (Anm. d. Übers.)


« zurück zur Übersicht