BerichteHorizontale Bewegung Interview mit Francisco Chico Whitaker über das Weltsozialforum von Andrea Martínez
(Montevideo, 28. Dezember 2011, la diaria/poonal).- Politik sollte nicht nur parteibestimmt sein, sagt Francisco Whitaker Ferreira. Dies sei sowohl die Meinung derjenigen, die an den arabischen Revolutionen teilnahmen, als auch die der TeilnehmerInnen des Weltsozialforums. Als einer der Gründer des Weltsozialforums (WSF) ist Whitaker davon überzeugt, dass es die Menschen, und nicht die Regierungen sind, die tief greifende Veränderungen auf den Weg bringen. Der besser als "Chico" Whitaker bekannte Brasilianer war in den 1980er Jahren Geschäftsführer der Kommission für Gerechtigkeit und Frieden der brasilianischen Bischofskonferenz CNBB, dann wurde er zur politischen Führungskraft der brasilianischen Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) bevor er schließlich zu einem sozialen Aktivisten wurde. Der 1931 geborene Whitaker hebt hervor, dass die Explosion der Proteste in den verschiedenen Ländern ein „sehr klarer Beweis dafür sei, dass die Welt einen Wandel braucht und die Menschen das Gefühl haben, es sei möglich, ihn durchführen zu können“. Welche Rolle kommt dem WSF angesichts dem Anwachsen der weltweiten Volksaufstände zu: dem arabischen Frühling, die „Empörten“ Spaniens und der Proteste in den USA? Chico Whitaker: Offensichtlich gibt es immer mehr Möglichkeiten und auch Gelegenheiten, dass die Initiatoren dieser Bewegungen sich mit den OrganisatorInnen der Foren treffen. Das wird wahrscheinlich in Tunesien im März 2012 passieren, wenn es ein maghrebinisches Sozialforum geben und man versuchen wird, Treffen für danach zu organisieren. Aber das Wichtige ist, dass diese Bewegungen mit Konzepten arbeiten, die nah an denen des Forums sind: Horizontalität, offener Raum, ohne Beschlüsse, gemeinsamer Gedankenaustausch, das Suchen von Auswegen. Das WSF ist ein offener Raum, in welchem die Aktivitäten durch die Teilnehmenden bestimmt werden, nicht durch eine Entscheidungsgruppe. Auch die neuen Bewegungen gehen, so wie wir, davon aus, dass politisches Handeln nicht auf parteipolitisches Handeln beschränkt bleiben kann: die Parteien werden als etwas gesehen, dass nicht ausreichend und mit Problemen behaftet ist. Es sind junge Leute, die größtenteils nicht mit Parteien verbunden sind. Sie sehen die repräsentative Demokratie als nicht ausreichend und verzerrt an, genau wie wir. Außerdem dezentralisieren sie ihre Arbeit und organisieren lokale Aktivitäten, genauso wie das WSF, das internationale, regionale und lokale Veranstaltungen durchführt, ohne Verbindung untereinander, ohne Hierarchien, sondern mit horizontalen Netzwerken. Es besteht im Moment eine starke Tendenz, thematische und lokale Foren einzurichten, um zu erreichen, dass die Leute sich kennen lernen und sich artikulieren können. Ich bin sicher, dass diese Bewegungen einen Weg finden werden, damit die Leute nicht aufgeben. Das ist die größte Herausforderung, denn mit der Zeit fängt man an, Räume aufzugeben. Man fängt an, dem Druck nachzugeben, der sowohl von Seiten der Machthabenden, als auch von der Presse ausgeht, wenn diese behaupten, die Leute in den Bewegungen seien müßig, utopisch und würden Drogen nehmen. Man muss diese Hürde überwinden, dass sie in den Schmutz ziehen, was diese Leute tun. Vor allem aber diese neuen Bewegungen ein sehr klarer Beweis dafür, dass die Welt einen Wandel braucht und die Menschen das Gefühl haben, es sei möglich, ihn durchführen zu können. Wie reagiert ihr auf die Kritik, dass das WSF genau aufgrund dieser Form der Arbeit nichts abzuschließen und keine konkreten Vorschläge zu machen wirkungslos sei? Chico Whitaker: Das Forum an sich ist weder eine Bewegung, noch eine Organisation, es ist ein Raum. Von ihm gehen viele konkrete Vorschläge aus. Aber es sind die Organisationen, die Dinge umsetzen und Vorschläge machen. Wir präsentieren keine abschließenden Ergebnisse, weil es unmöglich ist, die Äußerungen aller mit einzubeziehen. Wenn es Schlussfolgerungen gäbe, wären diese viel zu umfangreich. Aber die Leute werden im Forum dazu angeregt, sich zu äußern, Schlüsse zu ziehen und mit konkreten Vorschlägen nach außen zu gehen, um diese dann auch zu realisieren. Dies hängt aber stark von denjenigen ab, die teilnehmen. 2007 haben Sie in einem Interview mit der “la diaria” darauf hingewiesen, dass zwischen den Organisationen, die normalerweise an dem Forum teilnehmen, eine Spannung bestehe zwischen dem Konzept “Forum-Bewegung” und “Forum-Raum”. Ist das noch immer der Fall? Chico Whitaker: Diese Debatte ist mehr oder weniger abgeschlossen. Sogar wir, die den Standpunkt verteidigten, das Forum müsse sich in eine Bewegung verwandeln, haben gemerkt, dass - wenn dies eintreten sollte - das Forum sterben würde. Das Forum als Raum zu erhalten hat hingegen großen Wert. Ungeachtet dessen gibt es eine Vielzahl von Organisationen und Bewegungen, die das Forum nur in bestimmten Phasen benutzen. So zum Beispiel die Liga Campesina, die mit der Landlosenbewegung in Brasilien MST (Movimento Sem Terra) begann und sich dann mit anderen Bauernbewegungen Lateinamerikas und der ganzen Welt zusammenschloss. Sie nutzten die Strukturen des Forums um ihre Liga auszubauen, die jetzt eine sehr große weltweite Bewegung darstellt. Für sie hat das Forum bereits seinen Nutzen gehabt und manchmal nehmen sie nicht teil. Das ist nicht gut, denn es gibt noch viel mehr, was getan werden muss. Es gibt viele Bewegungen, die sich immer noch nicht angeschlossen haben. Die Foren müssten vervielfacht werden, um deren Teilnahme zu ermöglichen. Wenn sie nicht kommen, entgehen ihnen Chancen. Auch Leute, die für sich entdecken, dass es wichtig ist, Parteipolitik zu machen, können dies tun - nur nicht im Forum. Der Prozess hängt sehr stark von jedem und jeder Einzelnen ab, das Forum ist ein Instrument, ein Service für die Schaffung eines Verbundes. Wie reagiert das WSF auf die Annäherung von Führungspersönlichkeiten wie dem ehemaligen Präsidenten Brasiliens Lula da Silva oder den aktuellen Regierungschefs Venezuelas und Boliviens, Hugo Chávez und Evo Morales? Chico Whitaker: Das Forum an sich ist kein parteiischer Raum, aber er ist offen für die Beiträge von Parteivorsitzenden. Trotzdem ist das sehr problematisch, weil die Leute Beiträge von Lula oder Chávez oft so verstehen, als hätten diese das „Schlusswort“. Dem ist aber nicht so: Sie kommen, aber sie bestimmen nicht. Die Parteien haben ein großes Interesse daran zu kommen, da die Leute, die an den Foren teilnehmen, meist unabhängig sind, autonom, neue Ideen und neue Vorschläge haben, welche die Parteien aufgreifen können. Wir wollen nicht, dass sich die Parteien einmischen, weil sie eine Tendenz haben, um Macht zu kämpfen. Dafür gibt es sie, um Macht zu gewinnen. Wir wollen diese Art von Machtkampf nicht im Raum des Forums. Es gibt dort keinen Platz für Machtkampf, nur für Verständnis und Kooperation. Warum, glauben Sie, haben in den letzten Jahren in Brasilien die Demonstrationen und Proteste zugenommen? Chico Whitaker: Lula hat eine Menge von leitenden Personen aus den Bürgerbewegungen in die Regierung mitgenommen, und die Bewegungen standen dann ohne Führungspersonen noch “Animateure” da. Außerdem war die Situation sehr schwierig: Da es „unsere“ Regierung war, eine Volksregierung, war es schwierig, sie zu kritisieren. Wenn wir es taten, gaben wir der Opposition Argumente in die Hand. Lula sagte uns: „Bitte, übt Druck aus, denn wenn ihr es nicht tut, werden es die von oben machen und ich werde vor ihnen weichen müssen. Ich ziehe es vor, dies vor euch zu tun“. Aber diese Phase, die es während der Regierungszeit Lulas gegeben hatte, geht nun zu Ende. Die sozialen Bewegungen werden wieder autonom, kritisch und fordernd. Gelangen die Linken zu stark konditioniert in die Regierungen oder sind sie einfach mit dem Regieren überfordert? Chico Whitaker: Ihnen fällt es zu schwer, aber dahinter steckt noch etwas anderes bei Evo, bei Correa, bei Lula: Sie haben das vorherrschende kapitalistische System nicht kritisiert. Sie treten in die Regierung ein und glauben, es müsse schnell ein Wirtschaftswachstum geben. Sie machen weiter mit dem Wahnsinn des kapitalistischen Systems und denken, dies sei der einzige Weg dazu, mehr verteilen zu können. In Wirklichkeit aber zerstören sie die Natur und die Gesellschaft. Der Wechsel von der Idee eines rein ökonomischen Wachstums zu der Idee einer wirklichen und befreienden ökonomischen Entwicklung wird auf diese Weise nicht kommen. Die Anwendung des kapitalistischen Systems, wie sie in Brasilien erfolgt, schafft soziale Ungleichheit, obgleich es das Hauptversprechen der Regierung Lula war, die Ungleichheit zu verringern. Die Reichen Brasiliens sind noch reicher als vorher. Den Armen geht es ein wenig besser, aber der Abstand zwischen arm und reich ist derselbe geblieben. Es sind Prozesse. Die gesamte Gesellschaft muss mehr Bewusstsein für diesen Wechsel des Wirtschaftssystems haben. Hat die Regierung Lula enttäuscht? Chico Whitaker: Nein, Lula hat die Macht genommen, aber nicht, um zu tun, was er wollte. Um gewählt zu werden und sich in der Regierung zu halten, musste er Allianzen eingehen - die unglaublichsten, die schrecklichsten und widersprüchlichsten. Aber auf diese Art und Weise musste er seine Regierung aufrecht erhalten und er konnte eine Menge durchsetzen, obwohl viele Dinge außen vor blieben. Das ist sehr schwierig. Ich hätte nicht in seiner Haut stecken wollen. Die strukturellen Wechsel sind sehr schwierig und führen dazu, dass Präsidenten absetzt werden. Deswegen müssen derartige Veränderungen aus der Gesellschaft kommen. Das ist das Prinzip des Forums: die Gesellschaft ist der politische Akteur, der fehlt. Die Regierungen und die Armen tun was sie können und Lula hat getan, was er konnte. Und auch Dilma Rousseff, die derzeitige Präsidentin, tut, was sie kann. Die Allianzen, die sie von Lula erbte, um die Mehrheit im Kongress zu haben, haben ihr diese Probleme mit den Ministern beschert. Sie fallen, weil es sich um Allianzen mit der alten Politikkultur handelt, denen sich Lula nicht entgegenstellen wollte. Kann man sagen, dass Dilma es auf sich nimmt, alte Korruptionsstrukturen zu bekämpfen? Chico Whitaker: Nein, sie bezahlt den Preis für das alte politische Modell. Aber es gibt Regierungsorgane, die der Führung Dilmas unterstehen, wie Rechnungshof und Polizei. Diese Organe haben unter Lula sehr an Fähigkeiten und Effizienz gewonnen und leisten eine unglaubliche Arbeit, um den Kampf gegen die Korruption zu unterstützen. |
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