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Solidarische Globalisierung: Das Weltsozialforum von Porto Alegre

sowie ein Interview mit João Pedro Stedile von der nationalen Leitung der MST

(von Gerhard Dilger, Informationsstelle Lateinamerika)

Porto Alegre - Ein zierlicher Mann mit schwarzem Schnauzbart und in dezentem Anzug bahnt sich den Weg durch die bunte Menge von AktivistInnen aus aller Welt. Rote Fahnen werden geschwenkt, "Olívio, Olívio"-Sprechchöre erschallen im riesigen Auditorium der Katholischen Universität von Porto Alegre. Auf der Abschlussveranstaltung des Weltsozialforums erhält kaum jemand mehr Beifall als der Gastgeber: Olívio Dutra, 58, Gouverneur des Bundesstaates Rio Grande do Sul.

Dutra gehört zur Gründergeneration der brasilianischen Arbeiterpartei PT. 1988 wurde er in Porto Alegre als erster PT-Politiker zum Bürgermeister einer Landeshauptstadt gewählt. Die Kassen waren leer, die Gegnerschaft des einheimischen Establishments enorm. Also machte sich die kommunale PT-Spitze daran, ihre "Isolation zu durchbrechen," so Luciano Brunet vom"Bürgerbüro der Beziehungen zur Gemeinschaft". In Zusammenarbeit mit der Basisbewegung aus den Armenvierteln entstand dasOrçamento Participativo (OP) - übersetzt: "Partizipative Haushaltsaufstellung"-,  das inzwischen zum Markenzeichen von Porto Alegre und manch anderer PT-regierter Stadt geworden ist.

Demokratie in den Gemeinden Wir fingen an, den Mangel transparent zu verwalten", erzählt Brunet. "Die Bevölkerung wurde nach Prioritäten gefragt, die wenigen Mittel in den bedürftigten Stadtvierteln konzentriert." Nach diesen beiden Prinzipien funktioniert das OP bis heute. Zunächst werden auf Bürgerversammlungen in 16 Bezirken die örtlichen Prioritäten festgelegt. Soll eine Kinderkrippe gebaut werden? Oder ist die Renovierung des Kulturzentrums wichtiger? Oder vielleicht doch die Asphaltierung zweier Nebenstraßen? Parallel dazu beraten Vertreter von Basisbewegungen auf fünf thematischen Foren über die Struktur der Investitionen im Stadthaushalt - derzeit etwa 15 Prozent des gesamten Etats, denn der Löwenanteil besteht aus laufenden Kosten wie den Gehältern der städtischen Angestellten. 

Die Bürger- und Delegiertenversammlungen erarbeiten bis Ende September konkrete Investitionspläne, wobei die Exekutive nur den Umfang der bereitstehenden Mittel bekannt gibt. Der Bürgermeister präsentiert die Vorschläge unverändert dem Stadtparlament, das bis Ende November den Jahreshaushalt verabschiedet. Im vergangenen Jahr waren rund 30.000 Menschen am OP für den Jahresetat 2001 beteiligt - von insgesamt 1,4 Millionen Einwohnern. Durch diese Form der direkten Mitbestimmung sind Korruption und Vetternwirtschaft, ein Grundübel brasilianischer Politik, in Porto Alegre so gut wie unbekannt. 

Konservative Kritiker beklagen, dass Mitglieder der Arbeiterpartei den gesamten Prozess dominieren. Die PT verstoße gegen in der Verfassung vorgegebenen Mechanismen der repräsentativen Demokratie, behauptet etwa der emeritierte Politologe José Giusti Tavares. Für ihn ist das OP ein "Machtinstrument der PT". Das Wahlvolk scheint es nicht zu stören: Ende Oktober 2000 erzielte der jetzige Bürgermeister Tarso Genro, der bereits von 1992 bis 1995 im Amt war, in der Stichwahl 63 Prozent aller Stimmen.

Ein konkretes Beispiel, wie sich die Bürgerbeteiligung auszahlen kann, ist der Wohnkomplex Lupicínio Rodrigues im Zentrum Porto Alegres. Noch vor drei Jahren befand sich an gleicher Stelle ein Armenviertel, eine "ziemlich wilde Favela," wie Valdemar de Oliveira meint. Unter der Leitung des rührigen Vorsitzenden der örtlichen Bürgervereinigung erstritten sich die 80 Familien auf den OP-Versammlungen ihres Bezirks die Haushaltsmittel für den Neubau des Viertels. Während der Übergangszeit von einem knappen Jahr wohnten sie in großen Schuppen. 

Auch heute stehen Oliveira mit seiner vierköpfigen Familie nur zwei Stockwerke mit 30 Quadratmetern zur Verfügung, aber die Anlage hat jetzt einen Kindergarten und einen Gesundheitsposten. Das Gemeinschaftszentrum wird gerade eingerichtet. "In der kommenden OP-Runde wollen wir erreichen, dass vor dem Viertel eine Polizeistation installiert wird," sagt Oliveira, der vor 15 Jahren aus dem Hinterland von Rio Grande do Sul auf der Suche nach Arbeit nach Porto Alegre gekommen ist.  

Gleich nebenan befindet sich ein städtisches Obdachlosenasyl, wo bis zu 40 "Straßenbewohner" vorübergehend untergebracht werden. Die 60-jährige Delcy da Silva, die im nahegelegenen Stadtpark wohnt, wartet auf ein warmes Essen. "Das Asyl ist nicht schlecht, aber es ist ein Tropfen auf den heißen Stein," klagt sie. "Wir werden immer mehr." 

Die Stadtregierung könne die sozialen Probleme nur lindern, räumt Luciano Brunet ein. "Natürlich wirkt sich die Wirtschaftskrise, vor allem die Arbeitslosigkeit, auch auf Porto Alegre aus," sagt er. Die brasilianischen Kommunen erhielten nur 17 Prozent aller Steuereinnahmen - im Gegensatz zu Europa, wo dieser Anteil im Schnitt drei Mal so hoch sei.

Seit Anfang 1999 steht Olívio Dutra der Landesregierung von Rio Grande do Sul vor. Das südlichste Bundesland Brasiliens ist mit 280.000 Quadratkilometern größer als der Nachbar Uruguay oder die alte BRD - allerdings wohnen hier nur 11 Millionen Menschen. Nun setzt die PT-Landesregierung das OP auch im weitgehend ländlich geprägten Flächenstaat um - eine "aufregende Erfahrung", wie Iria Charão, Ministerin für die "Beziehungen zu den Gemeinschaften" meint.

Die vitale 56-Jährige macht nach eigenem Bekunden seit ihrem Hauptschulabschluss vor 42 Jahren Basisarbeit und gehört zu Dutras Mitarbeitern der ersten Stunde. Mit ihrem 50-köpfigen Team hat sie die ehemalige neoklassizistisch angehauchte Residenz der Vizegouverneure bezogen. "Das OP ist ein einziger großer Volksbildungsprozess," schwärmt die Ministerin. 190.000 Menschen hätten sich im ersten Jahr beteiligt, dann erwirkte ein Abgeordneter der Opposition ein zeitweiliges Verbot, das OP mit staatlichen Mittel zu propagieren. "Wir setzten auf Mund-zu-Mund-Propaganda und sammelten Spenden für den Kauf der nötigen Materialien," berichtet Charão. Und so sei trotz aller Behinderungen die Beteiligung im vergangenen Jahr noch einmal um 50 Prozent gestiegen.

In den 497 Gemeinden finden alljährlich Bürgerversammlungen statt. "Für viele Menschen ist das die erste Chance gewesen, direkt mit Regierungsvertretern zu reden," so die Ministerin, die Wert darauf legt, den Prozess so oft wie nur irgend möglich vor Ort zu begleiten. "Bei den Kaingang-Indianern oder in so mancher Gemeinde mit deutschstämmiger Bevölkerung werden die Redebeiträge hin- und herübersetzt."

Auch die Widerstände von Provinzfürsten, die ihre Pfründen in Gefahr sahen, hätten nachgelassen. Allerdings würden noch längst nicht alle Vorgaben der insgesamt 14.000 Delegierten umgesetzt, so etwa der Vorschlag, bei 30 Großunternehmen zusätzliche Steuern einzutreiben. Die Opposition, die im Landesparlament die Mehrheit hält, stellte sich quer. Es können längst nicht alle Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden, denn die finanziellen Spielräume sind auch auf Landesebene denkbar eng. 

Selbst politische Gegner der PT räumen ein, dass die hohe Transparenz bei den Entscheidungsprozessen zu einer effektiveren Nutzung der knappen Haushaltsmittel geführt hat. "Dadurch, dass die staatliche Ausschreibungen offengelegt werden, sparen wir manchmal bis zu 30 Prozent. Korruption ist praktisch unmöglich geworden," sagt Iria Charão. "Außerdem fühlen sich die Menschen einbezogen und schlagen deswegen oft originelle oder kostengünstigere Lösungen vor." Der Politikwissenschaftler Denis Rosenfield lobt die durch das OP bestimmte Sozialpolitik der Landesregierung. Doch andere Bereiche, etwa die Bildungs- und Forschungspolitik, würden im Gegenzug vernachlässigt. Auch für die Ansiedlung neuer Firmen sei noch kein stimmiges Konzept vorhanden.

Das von der UNO und anderen internationalen Organisationen gepriesene OP hat in Dutzenden brasilianischer Städte Schule gemacht und stößt auch in Metropolen wie Barcelona, Bologna, Montevideo und Buenos Aires auf großes Interesse. Die indische Wissenschaftlerin Vandana Shiva, Trägerin des alternativen Nobelpreises, bezeichnete Rio Grande do Sul gar als "den wahrscheinlich weltweit einzigen Ort, wo die Regierung macht, was die Bevölkerung will" (mehr zum OP: .gov.br.)

Vom Ereignis zum Prozess  

Verständlich also, warum die Initiatoren des Weltsozialforums sich letztes Jahr für den Veranstaltungsort Porto Alegre entschieden. Die Idee zu einer Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum von Davos, wo sich seit 1971 alljährlich Manager, Banker und Politiker zum Gedankenaustausch treffen, hatte der Ex-Unternehmer Oded Grajew aus São Paulo. Einen begeisterten Mitstreiter fand er im Journalisten Bernard Cassen von Netzwerk für die demokratische Kontrolle der Finanzwerke (ATTAC).

Sechs Tage lang, vom 25. bis 30. Januar 2001, verwandelte sich Porto Alegre in eine Hochburg der Globalisierungskritiker. Brasilianische Landlose und Indígenas, afrikanische Intellektuelle, Basisaktivisten aus Indien, nordamerikanische Umweltschützer, französische Kommunalpolitiker, Feministinnen aus Australien - ein bunter Haufen von "demokratischen Kosmopoliten" (Flora Tristan) nahm an überfüllten Workshops, Podiumsdiskussionen und Kulturveranstaltungen teil.

Aus über 120 Ländern waren 4.700 Delegierte und etwa 10.000 zusätzliche Teilnehmer gekommen. Der gewünschte Kontrast zu Davos stellte sich ein - etwa in der Berichterstattung der großen französischen oder brasilianischen Zeitungen. Eine transatlantische Videoschaltkonferenz geriet zum polemischen Schlagabtausch zwischen Protagonisten aus Porto Alegre und dem Großspekulanten George Soros, zwei UNO-Beamten und einem schwedischen Unternehmer, die am Weltwirtschaftsforum beteiligt waren (komplettes Protokoll unter www.madmundo.tv).

Porto Alegre war der gelungene Versuch, an die Proteste anzuknüpfen, die seit dem gescheiterten Ministertreffen der Welthandelsorganisation (WTO) von Seattle im Dezember 1999 bei jedem größeren internationalen Gipfeltreffen organisiert werden. Einig waren sich alle Beteiligten, dass die derzeitige neoliberale Ausgestaltung der Globalisierung nur im Interesse einer kleinen, aber mächtigen Minderheit liegt. Da aber öffentlichkeitswirksame Proteste allein noch nicht ausreichen, wollte man in Brasilien schwerpunktmäßig an der Formulierung von konstruktiven Alternativen arbeiten - nach dem Tagungsmotto "Eine andere Welt ist möglich". Mit von der Partie: Hunderte von Bürgermeister und Parlamentarier, die zu entsprechenden Veranstaltungen im Rahmen des Forums angereist waren.

Die Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus aller Welt, die das Gros der offiziellen Delegierten stellten, waren angetan von der Möglichkeit zum Informationsaustausch und zum Diskutieren über das weitere gemeinsame Vorgehen. Aus diesem Grund versuchten die Veranstalter - acht brasilianische soziale Bewegungen und NGOs - erst gar nicht, die Vielfalt der Anwesenden und ihrer Vorstellungen in einem offiziellen Schlussdokument zusammenzufassen. Immer wieder verteidigten sie diese Entscheidung als bewussten Ausdruck des Pluralismus. Allerdings verabschiedeten hunderte von Organisationen einen "Mobilisierungsaufruf", in dem die wesentlichen Anliegen der allermeisten Forumsteilnehmer untergebracht sind (vgl. die Homepage des Weltsozialforums: www.forumsocialmundial.org.br).

"Wir bauen an einem großen Bündnis für eine neue Gesellschaft jenseits der herrschenden Logik, wonach der freie Markt und Geld als einziger Maßstab gelten," heißt es einleitend. Die Globalisierung verstärke ein "sexistisches und patriarchales System" sowie den Rassismus. "Luft, Wasser, Land und Völker sind zur Ware geworden." Gefordert wird ein "bedingungsloser" Schuldenerlass, die "Reparation historischer, sozialer und ökologischer Schulden", die Abschaffung von Steuerparadiesen und die Besteuerung internationaler Finanztransaktionen ("Tobin-Steuer").

IWF, die Weltbank und regionale Banken, die Welthandelsorgasiation WTO, die NATO und andere Militärbündnisse seien "einige der multilateralen Agenten der neoliberalen Globalisierung. Wir fordern ein Ende ihrer Einmischung in die nationale Politik", lautet eine zentrale Passage der Erklärung. Hier wird die Handschrift von Walden Bello deutlich. "Davos ist die Vergangenheit, Porto Alegre die Zukunft," begannder philippinische Soziologe sein flammendes Plädoyer für eine Neuordnung des internationalen Handels- und Finanzsystems. Der Leiter des Forschungszentrums Focus on the Global South in Bangkok war ein Jahr zuvor noch selbst in Davos. 

Für ihn befindet sich die Bewegung der GlobalisierungskritikerInnen in einer entscheidenden Phase: "Wir müssen hier das Tempo aufrechterhalten," meinte er beschwörend, "dann können wir die entscheidenden Schlachten gegen Welthandelsorganisation, Währungsfonds und Weltbank gewinnen." Er sieht die "historische Chance" gekommen, "hierarchische, undemokratische Institutionen" wie den IWF, die Weltbank und die WTO weiter zu schwächen. Seine Alternative: "Deglobalisierung". "Wir sollten uns nicht von der Weltwirtschaft abkoppeln, aber wieder mehr für den internen Verbrauch produzieren," so Bello. Auch die Abhängigkeit von ausländischen Investionen und Finanzmärkten gelte es zu reduzieren. Ziel jeglicher Politik müsse es sein, die Vielfalt menschlicher Gemeinschaften zu respektieren und zu fördern.

Zu schwach vertreten waren diesmal noch Mittel-, Nord- und Osteuropa, Asien und Afrika und ganz allgemein der angloamerikanische Kulturkreis, ebenso Gewerkschafter und Umweltschützer. Präsent, allerdings nicht in den zentralen Debatten, waren Indígenas und Jugendliche, die auf benachbarten Camps in der Stadt untergebracht waren, sowie afrobrasilianische Aktivisten, die sich bitter darüber beklagten, dass alle ihre Workshops an entlegenen Orten stattfanden. Während die über 400 Workshops die ganze thematische Bandbeite der Bewegung widerspiegelten, gelang die Zuspitzung in den 16 Podiumsrunden mit nicht immer gut ausgesuchten Rednern nur teilweise. Nicola Bullard vom Focus on the Global South bringt es auf den Punkt: Das Organisationskomitee könne viel von der "wohlüberlegten geschlechts- und altersmäßigen, ethnischen und sprachlichen Vielfalt" des Porto-Alegre-Teams bei der Videokonferenz lernen: "Diese Gruppe spiegelte den 'Geist von Porto Alegre' wider, im Gegensatz zur bizarren Auftaktspressekonferenz, die wie eine Szene vom letzten Abendmahl wirkte. Zwölf Manner mit Bart, einer ohne, saßen an einem langen Tisch. Eine Frau störte die biblische Einfalt "(Focus on Trade 59, www.focusweb.org).

Auch die Podiumsrunden wurden meist von "weißen, alten Männern" bestritten. Darüber hinaus stieß die rigide Methode der Diskussionsführung auf Kritik: Für Beiträge aus dem Publikum war kaum Zeit, und alle Fragen mussten schriftlich eingereicht werden und den Filter des jeweiligen Diskussionsleiters passieren. Ebensowenig transparent fiel die Entscheidung, das nächste Weltsozialforum erneut in Porto Alegre auszutragen. Manch einer störte sich an der unübersehbaren Präsenz der PT-Gastgeber, vor allem der Landesregierung. Daher fand das brasilianische Organisationskomitee erst buchstäblich in letzter Minute zu einem Kompromiss für 2002: Porto Alegre ist wieder Schauplatz der Hauptveranstaltung (31.1.-5.2.2002), daneben soll es Paralleltreffen in anderen Städten geben, und für 2003 wird ein neuer Ort gesucht.

Dementsprechend heißt es in der "Prinzipiencharta", die das Organisationskomitee im April 2001 verabschiedete: "Das Weltsozialforum ist
ein ständiger Prozess der Suche und der Konstruktion von Alternativen". Ausdrücklich festgehalten wird die Ablehnung totalitärer und reduktionistischer Geschichtsbilder, außerdem werden Organisationen ausgegrenzt, die "als Methode politischer Aktion Menschenleben aufs Spiel setzen". 

"Eine andere Welt ist möglich" war das Motto von Porto Alegre. Präziser gibt das Diktum des Subcomandante Marcos von "einer Welt, in die viele Welten passen" die Richtung vor. Es geht um die Ausweitung basisdemokratischer Initiativen vor Ort - und das Orçamento Participativo ist hier nur eines von unzähligen Beispielen -, aber auch um die Demokratisierung des Weltsozialforums selbst (siehe auch The Nation 19.3.2001, www.thenation.com).

Der französische Philosoph Edgar Morin meint, noch sei in Porto Alegre keine "zivilisatorische Politik für die Weltgesellschaft" formuliert worden. Andererseits beginne sich auf der Gegenseite das "Einheitsdenken zu pluralisieren", und das "Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Regulierung der Weltwirtschaft" habe selbst in Davos Einzug gehalten. Er hofft auf eine produktive "Dialektik der Antagonismen", ähnlich wie jene zwischen Arbeit und Kapital, die in Westeuropa zum Wohlfahrtsstaat geführt habe. Diesmal gehe es darum, einen ähnlichen Ausgleich auf globaler Ebene herbeizuführen, kurz: "die Erde zu zivilisieren" (Libération, 5.2.2001. Zum Weiterlesen: www.monde-diplomatique.fr/dossiers/portoalegre, das Libération-Dossier "Les batailles de la mondialisation": www.liberation.fr/omc/index.html sowie die fünfsprachige Homepage der Groupe d'études et de recherches sur les mondialisations: www.mondialisations.org).

Zur Dialektik von Innovation und Widerstand 

Um diesen Prozess voranzutreiben, sei "Innovation und Widerstand" nötig, sagte Waldon Bello. Was damit gemeint ist, führte geradezu exemplarisch die Landlosenbewegung MST (www.mst.org.br) vor. Sie nutzte die Anwesenheit der Weltpresse, um höchst symbolträchtig zwei Hektar Gensoja auf einem Versuchsgelände des Agrarmultis Monsanto im Hinterland von Porto Alegre zu zerstören. Mit von der Partie: der französische Bauernsprecher José Bové, dessen Buchtitel Die Welt ist keine Ware zu den meistzitierten Slogans des Weltsozialforums avancierte. Dass die brasilianische Regierung dem französischen Aktivisten mit Ausweisung drohte, konnte er als Publicity-Erfolg verbuchen.

Zuvor hatten KleinbauernvertreterInnen von 30 der insgesamt 77 Ländersektionen, die im Dachverband Vía Campesina in zusammengeschlossen sind, in Porto Alegre an einer weiteren Vernetzung gearbeitet. Erfolgreich ist der Druck der MST auf die Regierung, die von Anfang 1995 bis Mitte 2001 rund 500.000 Familien angesiedelt haben will. Diese Zahl wird allerdings von jener der ländlichen Kleinbetriebe übertroffen, die im gleichen Zeitraum bankrott gegangen sind. Unter dem Strich geht die Landkonzentration weiter, sodass von einer Agrarreform keine Rede sein kann. So lautet die Konsequenz für João Pedro Stedile von der nationalen Leitung der MST, der auch im Weltsozialforums-Organisationskomitee sitzt: "Das exportorientierte Agrarmodell muss geändert werden."

Herr Stedile, was ist Ihr Zwischenfazit drei Monate nach dem Ende des ersten Weltsozialforums?

Porto Alegre war ein Hafen für Menschen aus aller Welt, die sich vergewissern wollten, dass es möglich ist, sich gegen das Kapital zu erheben. Es war ein pluralistisches Treffen. Der Prozess ist zweigeteilt: Einige organisieren Veranstaltungen, um alternative Vorschläge zu diskutieren. Andere wollen eine internationale Protestbewegung gegen den Neoliberalismus aufbauen. 

Wie haben Sie in Porto Alegre die so genannten "Ausgegrenzten" erlebt? Die Bauernorganisationen waren sehr aktiv, aber andere, etwa Schwarze, Indígenas oder Jugendliche aus den Armenvierteln der Städte, kamen nicht so recht zum Zug. Der Diskurs wurde von Akademikern, Nichtregierungsorganisationen und Politikern dominiert.

Auch wir haben diese Selbstkritik geübt. Offensichtlich dominierten in Porto Alegre die Weißen, der Westen, die über 30-Jährigen mit politischer Erfahrung. Daher bestehen wir von der MST und von der Via Campesina darauf, dass wir versuchen müssen, diesen Ideenaustausch in unseren Ländern zu reproduzieren. Wir plädieren dafür, dass wir uns ab dem kommenden Jahr an mehreren Orten treffen müssen, um die Möglichkeit zu schaffen, dass eine Volksbewegung daraus wird, damit all jene, die in sozialen Kämpfen stecken, an dieser Debatte teilhaben können.

Andere kritisierten den "Reformismus", der in Porto Alegre dominiert habe.

Das Forum wurde weder von ultralinken Sektoren wie Trotzkisten oder Anarchisten dominiert noch von der "rechten Linken". Natürlich gab es dort sozialdemokratische, reformistische Kräfte. Aber die Forderung nach radikalen Änderungen war der zentrale Kern, um den sich die Debatten drehten. Das Forum war klar: Man darf die Auslandsschulden nicht bezahlen. Wir müssen sehen, was die Botschaft für die Gesellschaft war. Ich bin sicher, der internationalen Bourgeoisie hat Porto Alegre kein bisschen gefallen. 

Auffällig war, wie dünn viele Regionen der Welt noch vertreten waren.

In Europa haben wir ein Problem. Die Gewerkschaftsbewegung steckt in großen Schwierigkeiten. Für Porto Alegre hat ATTAC mobilisiert, keine soziale Bewegung. Schwierig ist es aber auch in Afrika, Asien und der arabischen Welt. Bei aller berechtigter Kritik am Treffen: Es geht vor allem darum, den Prozess zu sehen, und der muss sich ausweiten.

Daher auch die Idee weiterer Paralleltreffen, die zeitgleich zu Porto Alegre 2002 stattfinden sollen.

Die Leute werden angeregt, nationale Komitees zu bilden. In Dutzenden von Ländern ist man dabei, dies zu tun, als erster Schritt. Zu parallelen Treffen könnte es zum Beispiel in, Bangkok, Quito, Dakar und in den USA kommen. Vier, fünf Orte sind realistisch, wenn nicht zeitgleich mit Porto Alegre, dann vielleicht ein paar Tage vorher.

Ein Kristallisationspunkt für die Linke in ganz Amerika ist die geplante Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (FTAA, span. ALCA), die ab 2006 in Kraft treten soll. Was kann ihr entgegengesetzt werden?

Die ALCA ist ein Projekt der US-Multis, um den lateinamerikanischen Markt noch besser berherrschen zu können.Wenn es den USA gelingt, die ALCA durchzusetzen, werden sie einen langen Kampf um die nationale Souveränität auslösen. Zentral sind dabei die großen Länder, die sich dem entgegenstellen könnten. Aber Mexiko ist praktisch schon drin. Und auch Argentinien ist bereits eine Geisel der USA, weil es seine Wirtschaft dollarisiert hat.

Die große Herausforderung ist also Brasilien. Die Frage ist, ob es uns in den nächsten drei Jahren gelingt, die Massenbewegung wieder zu entfachen. Wir können die ALCA nur aufhalten, wenn das Volk auf die Straße geht. Wir brauchen ein wenig historische Geduld. Die Zeit zwischen 1974 und 1978 war so ähnlich wie jetzt. Das Volk hatte die Nase voll von der Diktatur, aber man ging noch nicht auf die Straße. Ich bin zuversichtlich, dass es in zwei, drei Jahren soweit ist. Und dann sind es 10 Millionen, das ist ein anderes Kaliber als unsere Spaziergänge... 

Auch der Widerstand gegen den Plan Colombia wird immer wieder als gemeinsames Anliegen der lateinamerikanischen Linken genannt. Aber wie soll das konkret aussehen?

Die brasilianische Linke ist sich der US-Intervention bewusst, doch sie ist nicht in der Lage, dazu zu mobilisieren, denn die meisten Brasilianer wohnen an der Küste und nicht in Amazonien. Eher noch glaube ich, dass man die über Rolle der Multis bei der Gentechnik oder den Patentgesetzen an die Leute herankommt. Ich glaube, die einzige Chance gegen den Plan Colombia haben wir, wenn es eine Rebellion in Ecuador gibt. Dann könnten sich die Kräfteverhältnisse im andinen Raum verschieben. Wenn dagegen in Kolumbien das Pendel in die ein oder andere Richtung ausschlägt, dann könnte es zu einem Bürgerkrieg in ungekanntem Ausmaß kommen. 

Von der kolumbianischen Guerilla gehen ja keine innovativen Impulse aus, ganz im Gegensatz zu den Zapatistas. Kommen die zum nächsten Weltsozialforum und werden sie die Diskussion bereichern?

Bestimmt. Aber ich fürchte, der Zapatismus hat sich letztlich auf die Frage der Autonomie für die indigenen Völker reduziert. Doch für den Kampf gegen das internationale Kapital müssen die Massen mobilisiert werden. In dieser Hinsicht sind die Zapatistas hinter den Erwartungen zurück geblieben, sicher auch, weil sie jahrelang in Chiapas eingeschnürt waren.

Zurück zur Gentechnik. Warum, meinen Sie, eignet sie sich besonders gut zur Bewusstseinsbildung?

Sie bringt die Konsumenten in den Städten und die Bauern zusammen. Bei Gensoja und Genmais gibt es ungeklärte Risiken für Gesundheit und Umwelt. Und wenn die Multis eine Monopolstellung beim Saatgut erlangen, bedeutet das das Ende für die Kleinbauern. Sie werden zu Pächtern degradiert, und die Multis entscheiden über Technik und Saatgut. Die Kleinbauern wissen um die Bedeutung des Saatgutes für ihre Autonomie. Schließlich kommt das Thema auch in Europa und Nordamerika gut an.

Zum Schluss: Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der Landlosenbewegung und der brasilianischen Regierung?

Das ist ein Katz-und-Maus-Spiel. Wir versuchen, der Katze den Käse zu klauen, und wenn die Katze uns schnappt, dann frisst sie uns. Aber wir sind noch nicht stark genug, um der Katze die Schelle um den Hals zu hängen. Wir tun alles, um gegen Symbole des Wirtschaftsmodells zu kämpfen. Wir verfolgen damit auch eine pädagogische Absicht für all jene, die noch kein Bewusstsein darüber haben. So hoffen wir, immer mehr Leute gegen die Regierung aufzubringen. Wir müssen also die Katze schlagen und fliehen, das ist eine Pendelbewegung. 

Für die Regierung scheint die MST der Lieblingsfeind zu sein...

Ja, sie setzt ihr Agrarmodell mit Biegen und Brechen durch. Sie will ganz offensichtlich keine Agrarreform im klassischen Sinn durchführen, sondern uns als politische Organisation besiegen. Anders als während der Militärdiktatur geht es weniger um nackte physische Gewalt. Jetzt läuft die Repression über die Justiz. Es sind 180 Verfahren gegen uns anhängig. Dazu kommen die Bespitzelung durch die politische Polizei und die Kampagnen in den Massenmedien, durch die die Gesellschaft gegen uns aufgebracht werden soll.

Trotz dieser Offensive der Regierung leisten wir Widerstand und schaffen neue Bündnisse. Auch wenn wir keine spektakulären Erfolge gehabt haben, steigt die Anzahl der Mobilisierungen. Um den internationalen Frauentag herum gab es die bisher größten Aktionen von Bäuerinnen, und gleich danach von der Bewegung gegen Staudämme. Manchmal müssen wir Landlose diese quasi feuerwerksartigen Aktionen machen, wie die Zerstörung des Monsanto-Versuchsfeldes oder die Besetzung eines Landgutes des brasilianischen Botschafters in Italien. So machen wir die Leute auf die Lügen der Regierung aufmerksam.

 

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